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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten
Autoren: Javier Marías
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I
    Das letzte Mal sah ich Miguel Desvern oder Deverne, als ihn auch seine Frau Luisa zum letzten Mal sah, was eigentlich seltsam, ja ungerecht ist, denn sie war seine Frau und ich nur eine Unbekannte, die nie ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Selbst wie er hieß, wusste ich nicht, erfuhr es allzu spät, als er bereits in der Zeitung abgebildet war, voller Stichwunden, die Brust entblößt, im Begriff, ein Toter zu werden, wenn er es in seinem entschwundenen Bewusstsein, das nie wiederkehrte, nicht schon war: Als Letztes hatte er wohl wahrgenommen, dass jemand auf ihn einstach, irrtümlich und grundlos, purer Wahnwitz also, ein ums andere Mal, ohne Erbarmen, wieder und wieder, mit dem Ziel, ihn aus der Welt zu schaffen, schnellstens ins Jenseits zu befördern, hier und jetzt. Doch allzu spät für was, frage ich mich. Offen gesagt, ich weiß es nicht. Wenn jemand stirbt, denken wir immer, nun ist es zu spät für dies und für das, für alles – auf ihn zu warten vor allem –, und wir streichen ihn von der Liste. Selbst unsere Allernächsten, so schwer es uns fällt, sosehr wir sie beweinen, sooft uns ihr Bild im Geist begleitet, ob draußen oder zu Hause, solang wir auch glauben, uns niemals abzufinden. Aber von Anfang an – von dem Augenblick, da sie uns sterben – wissen wir, dass wir nicht mehr mit ihnen rechnen dürfen, nicht für die kleinste Kleinigkeit, einen banalen Anruf, eine dumme Frage (Habe ich den Autoschlüssel liegen lassen? Wann sind die Kinder heute aus dem Haus?), für nichts. Rein gar nichts. Im Grunde erstaunlich, denn es setzt Gewissheit voraus, und mit Gewissheiten steht unsere Natur auf Kriegsfuß: dass jemand gewiss nicht wiederkehrt, nichts mehr sagt, keinen Schritt mehr tut – ob er nun kommt oder geht –, uns nicht mehr anschaut, nicht mehr wegschaut. Ich weiß nicht, wie wir das aushalten, wie wir darüber hinwegkommen. Weiß nicht, wie wir manchmal vergessen können, während die Zeit verstreicht und uns von ihnen, die sich nicht mehr vom Fleck rühren, entfernt.
    An so vielen Morgen hatte ich ihn gesehen, hatte ihn reden und lachen hören, in den letzten Jahren fast allmorgendlich, nicht allzu früh, ich kam sogar verspätet ins Büro, um diesem Pärchen ein Weilchen nah zu sein, nicht ihm – wohlgemerkt –, sondern beiden, beide wirkten sie beruhigend auf mich, machten mich froh, bevor ich den Arbeitstag begann. Sie wurden mir fast zur Notwendigkeit. Nein, das Wort taugt nicht für das, was uns Freude und Ruhe schenkt. Zu einem Aberglauben vielleicht, doch auch das trifft es nicht: Ich erwartete keinen Unglückstag, wenn ich nicht mit ihnen frühstückte, separat, versteht sich; ich begann den Tag nur weniger heiter, weniger optimistisch, wenn ich auf ihren Anblick verzichten musste, der für mich eine heile Welt bedeutete, eine harmonische, wenn man so will. Nun gut, ein winziges Stück Welt, das nur wenige sahen, wie bei jedem Bruchstück, jedem Leben, so öffentlich und vor aller Augen es auch stattfinden mag. Ungern vergrub ich mich für so viele Stunden, ohne sie gesehen, sie beobachtet zu haben, nicht heimlich, doch diskret, denn um nichts auf der Welt hätte ich ihnen lästig fallen oder sie stören wollen. Sie zu vertreiben, hätte ich mir nie verziehen, es wäre zu meinem eigenen Schaden gewesen. Es machte mich froh, dieselbe Luft zu atmen oder – wenn auch unbeachtet – Teil ihres morgendlichen Panoramas zu sein, bevor die beiden sich bis zur nächsten Mahlzeit, vermutlich dem Abendessen, trennten, an so vielen Tagen. An jenem letzten, an dem seine Frau und ich ihn sahen, gab es für sie kein gemeinsames Abendessen mehr. Nicht einmal ein Mittagessen. Sie wartete zwanzig Minuten an einem Restauranttisch auf ihn, verwundert, aber ohne Besorgnis, bis mit dem Klingeln des Telefons ihre Welt unterging und sie nie wieder auf ihn wartete.

Vom ersten Tag an war mir klar, dass sie ein Ehepaar waren, er, um die fünfzig, sie, ein gutes Stück jünger, wohl noch nicht vierzig. Besonders nahm mich ein, wie sehr sie ihre Gesellschaft genossen. Zu einer Tageszeit, zu der kaum jemand für etwas zu haben ist, schon gar nicht fürs Scherzen und Lachen, redeten sie unentwegt, amüsierten und ermunterten sich, als hätten sie sich eben erst getroffen, ja kennengelernt, wären nicht gemeinsam aus dem Haus gegangen, hätten sich nicht gleichzeitig zurechtgemacht – vielleicht sogar im selben Badezimmer –, wären nicht im selben Bett aufgewacht und hätten nicht als
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