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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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schön gestalteten Geländer. Sie befanden sich fast auf dem höchsten Punkt der Anhöhe und konnten das Dorf überblicken, ein kleines Dorf, recht hübsch, mit Höfen und Feldern. Vor dem Briefkasten stand ein Dienstwagen, der schon vor ihnen losgefahren war.
    Sejer ging voran, putzte sich an der Fußmatte sorgfältig die Schuhe ab und zog den Kopf ein, bevor er ins Wohnzimmer trat. Innerhalb einer Sekunde hatten sie die Lage erfaßt. Die Kleine wurde weiterhin vermißt, die Panik war eine Tatsache. Auf dem Sofa saß die Mutter, eine kräftige Frau in einem karierten Kleid. Neben ihr, eine Hand auf ihren Arm gelegt, saß eine Polizeibeamtin. Sejer konnte die Angst im Zimmer fast riechen. Die Frau wandte alle ihre Kräfte auf, um nicht zu weinen oder um vielleicht einen schrillen Entsetzensschrei zu unterdrücken, deshalb keuchte sie bei der geringsten Anstrengung auf. Zum Beispiel, als sie sich erhob und ihm die Hand reichte.
    »Frau Album«, sagte Sejer. »Es wird schon nach ihr gesucht, stimmt das?«
    »Die Nachbarn. Sie haben einen Hund.« Sie sank wieder auf das Sofa. »Wir müssen uns gegenseitig helfen.«
    Er setzte sich ihr gegenüber in den Sessel und beugte sich vor. Er wandte den Blick nicht von ihren Augen.
    »Wir schicken eine Hundestreife los. Aber Sie müssen mir jetzt alles über Ragnhild erzählen. Wer sie ist und wie sie aussieht und was sie anhat.«
    Keine Antwort, nur heftiges Nicken. Ihre Mundpartie war starr und unbeweglich.
    »Haben Sie überall angerufen, wo sie sein könnte?«
    »Da gibt es nicht viele Möglichkeiten«, murmelte sie. »Ich habe es überall versucht.«
    »Haben Sie hier im Dorf noch Verwandte?«
    »Nein. Wir sind nicht von hier.«
    »Geht Ragnhild in den Kindergarten oder die Vorschule?«
    »Wir haben keinen Platz bekommen.«
    »Hat sie Geschwister?«
    »Wir haben nur sie.«
    Er versuchte, unhörbar Luft zu holen.
    »Erstens«, sagte er dann. »Ihre Kleider. Beschreiben Sie die so genau wie möglich.« »Roter Trainingsanzug«, stammelte Frau Album. »Mit einem Löwen auf der Brust. Grüne Windjacke mit Kapuze. Ein roter und ein grüner Schuh.«
    Sie sprach ruckhaft, ihre Stimme drohte zu versagen.
    »Und Ragnhild selber, beschreiben Sie sie mir.«
    »Ein Meter zehn, achtzehn Kilo. Ganz blonde Haare. Wir waren gerade erst zur Reihenuntersuchung.« Sie ging zu der Wand, an der über dem Fernseher einige Fotos hingen. Die meisten zeigten Ragnhild, auf einem war Frau Album in Tracht zu sehen, ein anderes zeigte einen Mann in Felduniform, vermutlich den Ehemann. Sie suchte eins aus, auf dem die Kleine lächelte, und reichte es Sejer. Ragnhilds Haare waren fast weiß, die ihrer Mutter rabenschwarz. Aber der Vater war blond. Seine Haare lugten unter der Uniformmütze hervor.
    »Was ist sie für ein Kind?«
    »Zutraulich«, schluchzte Frau Album. »Redet mit allen.«
    Bei diesem Eingeständnis überkam sie ein Zittern.
    »Solche Kinder kommen auf dieser Welt am besten zurecht«, sagte er mit fester Stimme. »Wir müssen das Bild mitnehmen.«
    »Das ist klar.«
    »Sagen Sie mir«, bat er und setzte sich wieder, »wohin die Kinder im Dorf gehen, wenn sie etwas unternehmen wollen.«
    »An den Fjord. Zum Prestegardsstrand oder nach Horgen. Oder auf die Kuppe. Einige gehen auch zur Talsperre oder in den Wald.«
    Er schaute aus dem Fenster und betrachtete die schwarzen Tannen.
    »Hat irgendwer Ragnhild vor ihrem Verschwinden noch gesehen?«
    »Marthes Nachbar. Sie kam gerade an seiner Garage vorbei, als er zur Arbeit fahren wollte. Ich weiß das, weil ich mit seiner Frau telefoniert habe.«
    »Und wo wohnt Marthe?«
    »Im Krystall. Nur ein paar Minuten von hier entfernt.« »Sie hatte ihren Puppenwagen bei sich?«
    »Ja. Der ist rosa.«
    »Wie heißt dieser Nachbar? Der sie bei seiner Garage gesehen hat?«
    »Walther«, antwortete Frau Album verwundert. »Walther Isaksen.«
    »Wo finde ich ihn?«
    »Er arbeitet bei Dyno Industrier. In der Personalabteilung.«
    Sejer stand auf, ging zum Telefon und rief die Auskunft an, ließ sich die Nummer geben, wählte sie und wartete.
    »Ich hätte gern mit Walther Isaksen gesprochen, es ist sehr dringend.«
    Frau Album starrte ihn vom Sofa her besorgt an, Karlsen betrachtete durch das Fenster die Aussicht, die blauen Hügel, die Felder und in der Ferne den weißen Kirchturm.
    »Konrad Sejer, Polizei«, sagte er kurz. »Ich rufe vom Granittvei fünf aus an, Sie können sich vielleicht denken, warum.«
    »Ist Ragnhild noch immer nicht wieder
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