Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
Vom Netzwerk:
sich? Kann sie einen Kiosk gesucht
    haben?«
    »Sie hatte kein Geld.«
    »Das hier ist ein kleiner Ort«, sagte er dann. »Ist es schon einmal vorgekommen, daß sie draußen unterwegs war und daß ein Nachbar sie dann mit dem Auto mitgenommen hat?«
    »Ja, das schon. Hier oben gibt es an die hundert Häuser, und sie kennt fast alle Leute. Sie kennt auch die Autos. Ab und zu gehen sie zur Kirche hinunter, sie und Marthe, mit ihren Puppenwagen, und meistens fährt irgendein Nachbar sie dann nach Hause.«
    »Gehen sie aus irgendeinem besonderen Grund zur Kirche?«
    »Da ist ein kleiner Junge begraben, den sie gekannt haben. Sie pflücken Blumen und legen sie auf sein Grab, und dann gehen sie wieder nach Hause. Ich glaube, sie finden das spannend.«
    »Sie haben schon bei der Kirche gesucht?«
    »Ich habe um zehn Uhr bei Marthe angerufen, weil Ragnhild noch nicht zu Hause war. Da sagte Marthe, sie sei schon um acht losgegangen, und ich bin ins Auto gesprungen. Ich habe die Haustür offenstehen lassen, falls sie inzwischen nach Hause käme. Ich bin zur Kirche und zur Tankstelle gefahren, und dort habe ich das Auto stehenlassen und überall gesucht. Ich war in der Reparaturwerkstatt und hinter der Meierei, und danach bin ich zur Schule gefahren und habe auf dem Schulhof nachgesehen, da stehen Kletterstangen und so. Und ich war auch im Kindergarten. Sie wäre so gern dort hingegangen ...«
    Wieder wimmerte sie. Solange sie weinte, warteten die anderen schweigend. Ihre Augen waren jetzt geschwollen, und verzweifelt zerknüllten ihre Finger ihr Kleid. Nach einer Weile versiegte ihr Weinen, und die Trägheit setzte wieder ein. Ein Schild, der ihr die Schreckensbilder vom Leib hielt.
    Das Telefon schellte. Ein plötzliches unheilverkündendes Pfeifen. Frau Album schreckte vom Sofa hoch und wollte abnehmen, aber Sejers Hand fuhr hoch wie ein Stoppschild. Er hob den Hörer von der Gabel.
    »Hallo? Ist Irene da?«
    Es hörte sich an wie eine Jungenstimme. »Mit wem spreche ich?«
    »Torbj0rn Haugen. Wir suchen Ragnhild.«
    »Hier ist die Polizei. Kannst du etwas berichten?«
    »Wir haben uns bei allen Häusern hier oben erkundigt. Wirklich bei jedem. Aber viele sind ja jetzt nicht zu Hause. Immerhin haben wir im Feltspatvei eine Frau gefunden. Auf ihrem Hofplatz hat ein großes Auto gedreht, sie wohnt in Nummer eins. Eine Art Lieferwagen, sagt sie. Und in dem Wagen hat sie ein Mädchen mit grüner Jacke und weißen Haaren gesehen. Mit einer Haarwuschel auf dem Kopf. Und Ragnhild bindet sich doch oft die Haare mit einem Gummi hoch.«
    »Weiter.«
    »Der Wagen hat also gedreht und ist dann wieder bergabwärts gefahren. Und hinter der Biegung verschwunden.«
    »Hast du die Uhrzeit?«
    »Viertel nach acht.«
    »Kannst du in den Granittvei kommen?«
    »Wir sind gleich da, wir stehen beim Kreisverkehr.«
    Sejer legte auf. Noch immer stand Irene Album aufrecht da.
    »Wer war das?« flüsterte sie. »Was haben sie gesagt?«
    »Jemand hat sie gesehen«, antwortete Sejer langsam. »Sie ist in ein Auto eingestiegen.«

ENDLICH KAM DER SCHREI. Das Geräusch schien den dichten Wald zu durchdringen und in Ragnhilds Kopf eine schwache Bewegung auszulösen.
    »Ich habe Hunger«, sagte sie plötzlich. »Ich muß nach Hause.«
    Raymond blickte auf. Wuschel hoppelte über den Küchentisch und schleckte von dem Maismehl, das sie dort verstreut hatten. Sie hatten Zeit und Ort vergessen. Sie hatten alle Kaninchen gefüttert, Raymond hatte ihr seine Bilder gezeigt, die er aus
    Illustrierten ausgeschnitten und sorgfältig in ein großes Album eingeklebt hatte. Ragnhild mußte immer wieder über sein witziges Gesicht lachen. Jetzt ging ihr auf, daß es schon spät sein mußte.
    »Du kannst hier ein Brot essen.«
    »Ich will nach Hause. Wir müssen doch einkaufen gehen.«
    »Zuerst fahren wir auf die Kuppe, danach bringe ich dich nach Hause.«
    »Jetzt!« sagte sie energisch. »Ich will jetzt nach Hause.«
    Raymond hielt verzweifelt Ausschau nach einer weiteren Möglichkeit, das hinauszuschieben.
    »Ja, das weiß ich. Aber erst muß ich noch für Papa Milch kaufen. Unten in Horgen. Das dauert nicht lange. Du kannst hier warten, dann geht es schneller.«
    Er sprang auf und sah sie an. Sah ihr helles Gesicht mit dem kleinen herzförmigen Mund, der ihn an Darling-Drops erinnerte. Ihre Augen waren klar und blau, die Augenbrauen eine dunkle Überraschung unter dem weißen Schopf. Dann seufzte er tief und ging zur Küchentür. Ragnhild wäre eigentlich gern
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher