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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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Augen füllten sich mit Wasser. Er schniefte.
    »Nicht weinen!« sagte Sejer rasch. »Sonst platzt die Naht. Und rotzen tust du auch, ich geh Papier holen.«
    Er sprang auf und holte vom Waschbecken ein Papiertuch. Versuchte, Halvor Rotz und Blut von der Nase zu wischen.
    »Annie ist dir sicher ab und zu schwierig vorgekommen. Aber jetzt weißt du, daß sie ihre Gründe hatte. Die haben wir in der
    Regel immer«, fügte er hinzu. »Und die arme Annie konnte das nicht alles allein tragen. Ich weiß, es hört sich blöd an«, sagte er, vielleicht in dem Versuch zu trösten, denn der Junge, der dort mit eingeschlagenem Gesicht im Bett lag, tat ihm unendlich leid. »Aber du bist noch jung. Du hast viel verloren. Jetzt hast du das Gefühl, daß du nur mit Annie und sonst mit niemandem Zusammensein wolltest. Aber die Zeit vergeht, und alles ändert sich. Irgendwann wirst du anders denken.«
    Meine Güte, was für eine Behauptung, dachte er. Halvor gab keine Antwort. Er starrte Sejers Hände auf der Bettdecke an, den breiten goldenen Trauring an der rechten Hand. Sein Blick war anklagend.
    »Ich weiß, was du denkst«, sagte Sejer leise. »Daß ich gut reden habe, wo ich doch noch mit meinem dicken Ehering hier sitze. Mit einem richtig gleißenden Zehnmillimeterteil. Aber verstehst du«, er lächelte traurig, »das sind eigentlich zwei aneinandergelötete zu fünf Millimeter.«
    Wieder drehte er den Ring.
    »Sie ist tot«, sagte er. »Verstehst du?«
    Halvor senkte den Blick, und aus seinem Gesicht flossen noch mehr Blut und Rotz. Er öffnete den Mund, und Sejer sah seine zerstörten Zahnstummel.
    »Forfeihung«, gurgelte Halvor.
    Und dann ging endlich wieder die Sonne auf, und Sejer und Skarre wanderten, Kollberg zwischen sich, durch die Straßen. Der Hund stapfte gemächlich dahin und hob den Schwanz wie eine Fahne.
    An Sejers Handgelenk baumelten an einem Bindfaden rote und blaue, in Seidenpapier gewickelte Anemonen. Die Jacke hing lose über seinen Schultern, sein Ekzem war so friedlich wie lange nicht. Er ging in seiner weichen, geschmeidigen Weise dahin, während Skarre neben ihm sprang und hüpfte. Sie wollten nicht zu schnell gehen, denn sie trugen frischgebügelte Hemden
    und wollten ihr Ziel nicht schweißnaß erreichen.
    Matteus wuselte mit einem Schwertwal aus schwarzweißem Plüsch in den Armen erwartungsvoll durch die Wohnung. Der Schwertwal hieß Willy Free und war fast so groß wie Matteus selber. Sejers erster Impuls war, loszustürzen, den Kleinen auf den Arm zu nehmen und dabei mit jubelnder Stimme seine gewaltige Begeisterung zum Ausdruck zu bringen. So sollte man allen Kindern begegnen, mit echter, stürmischer Freude. Aber das war eben nicht seine Art. Er nahm Matteus vorsichtig auf den Arm und schaute zu Ingrid hinüber, die ein neues Kleid trug, ein buttergelbes Sommerkleid mit roten Himbeeren. Er gratulierte ihr zum Geburtstag und drückte ihre Hand. Bald würden sie auf die andere Seite des Erdballs reisen, zu Hitze und Krieg, und sie würden eine Ewigkeit dort bleiben. Dann reichte er seinem Schwiegersohn die Hand, während er Matteus mit der anderen festhielt. Danach warteten sie ruhig auf das Essen.
    Matteus quengelte nie. Er war ein wohlerzogenes Kind, das fast nie schrie oder bockte, es fehlte ihm einfach an Trotz und Widerspruchsgeist. Das einzige, was Sejer aus seiner eigenen Familie nicht kannte, war eine winzige Tendenz zu bezaubernden Frechheiten. Matteus’ Alltag bestand nur aus Lächeln und Liebe, und seine Eltern, von denen sie nur wenig wußten, hatten ihm wohl kaum Gene vererbt, die zu unnormalem Verhalten führen, andere um den Verstand bringen oder Matteus auf katastrophale Weise Grenzen überschreiten lassen würden. Sejers Gedanken wanderten. Zum Gamle M0llevej bei Roskilde, wo er selbst als Kind gewohnt hatte. Lange saß er in Erinnerungen versunken da.
    Schließlich fuhr er hoch. »Was hast du gesagt, Ingrid?«
    Verwundert starrte er seine Tochter an und sah, daß die sich eine blonde Locke aus der Stirn strich und ihn mit diesem besonderen Lächeln bedachte, das nur für ihn reserviert war.
    »Cola, Papa?« fragte sie. »Möchtest du eine Cola?«
    Gleichzeitig ruckelte an einem anderen Ort ein häßlicher Kastenwagen im niedrigsten Gang die Straße entlang, und ein kräftiger Mann mit struppigen Haaren hing über dem Lenkrad. Ganz unten am Hang hielt er an, um ein kleines Mädchen, das gerade zwei Schritte gemacht hatte, über die Straße zu lassen. Sie fuhr
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