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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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ich.
    Nein, antwortete sie. Noch nicht.
    Nimm dich in acht, Annie! schrie ich verzweifelt. Plötzlich schien ich aus einem Abgrund aufzusteigen, aus der Finsternis hinauf ins Klare. Ich hatte plötzlich nur noch einen einzigen lähmenden Gedanken. Daß nur Annie und sonst niemand auf der ganzen Welt Bescheid wußte. Der Wind schien sich zu drehen, er brauste in meinen Ohren. Alles war verloren. Ihr Gesicht hatte denselben verwunderten Ausdruck wie damals Eskil. Danach ging ich rasch durch den Wald. Ich habe mich nicht mehr nach ihr umgeblickt.
    Johnas musterte die Vorhänge und die Neonröhre an der Decke, während er immer wieder mit den Lippen Worte formte, die er nicht herausbringen konnte.
    Sejer sah ihn an. »Wir haben Ihr Haus durchsucht und technische Beweise sichergestellt. Sie werden wegen Totschlags an Ihrem Sohn Eskil Johnas und wegen vorsätzlichem Mord an Annie Sofie Holland vor Gericht gestellt werden. Haben Sie mich verstanden?«
    »Sie irren sich!« Seine Stimme war ein leises Winseln. Geplatzte Äderchen ließen sein Gesicht rötlich aussehen.
    »Es ist nicht meine Aufgabe, Ihre Schuld zu beurteilen.«
    Johnas machte sich an seiner Hemdentasche zu schaffen. Er zitterte so sehr, daß er aussah wie ein Greis. Schließlich brachte seine Hand eine flache kleine Metalldose zum Vorschein.
    »Ich habe einen so trockenen Mund«, murmelte er.
    Sejer starrte die Dose an. »Sie hätten sie gar nicht
    umzubringen brauchen, wissen Sie.«
    »Was sagen Sie da?« fragte Johnas mit schwacher Stimme. Er drehte die Dose um und klopfte eine kleine weiße Halspastille heraus.
    »Sie hätten Annie Holland nicht umzubringen brauchen. Sie wäre von selber gestorben, wenn Sie noch ein wenig gewartet hätten.«
    »Soll das ein Witz sein?«
    »Nein«, sagte Sejer ernst. »Über Leberkrebs mache ich keine Witze.«
    »Aber Sie irren sich! Niemand war so gesund wie Annie. Sie stand am See, als ich gegangen bin, als letztes habe ich gehört, wie sie Steine ins Wasser geworfen hat. Ich habe zuerst nicht zuzugeben gewagt, daß sie bis zum Weiher mitgekommen ist. Aber so war es wirklich! Sie wollte nicht mit mir zurückfahren, sie wollte zu Fuß gehen. Begreifen Sie nicht, daß irgendwer gekommen ist, als sie da beim Weiher stand? Ein junges Mädchen, allein im Wald. Oben an der Klippe wimmelt es doch nur so von Touristen. Sind Sie je auf die Idee gekommen, daß Sie sich irren könnten?«
    »Ein seltenes Mal passiert mir das durchaus. Aber Sie müssen begreifen, daß Ihre Schlacht verloren ist. Wir haben Halvor gefunden!«
    Johnas schnitt eine Grimasse, so als habe ihm jemand eine Nadel durchs Ohr gestochen.
    »Das ist bitter, nicht wahr?«

SEJER SASS SEHR RUHIG DA, die Hände im Schoß. Er ertappte sich dabei, wie er zweimal über seinen Trauring strich. Viel mehr konnte er nicht tun. Außerdem war es still und fast dunkel in dem kleinen Zimmer. Ab und zu blickte er auf und sah Halvors zerschlagenes Gesicht, das jetzt gewaschen und verbunden und doch ganz und gar unkenntlich war. Der Mund stand halb offen. Mehrere Zähne waren zerschlagen, die alte
    Narbe im Mundwinkel war nicht mehr zu sehen. Sein Gesicht war wie eine reife Frucht geplatzt. Aber die Stirn war unversehrt, und irgendwer hatte ihm die Haare nach hinten gekämmt, so daß die glatte Haut zu sehen war und noch immer verriet, wie hübsch er gewesen war. Sejer senkte den Kopf und legte vorsichtig die Hände auf die Bettdecke. Im Lichtkreis der Nachttischlampe waren sie deutlich zu sehen. Er hörte nur seinen eigenen Atem und irgendwo in der Ferne das leise Brummen eines Fahrstuhls. Eine plötzliche Bewegung unter seinen Händen ließ ihn zusammenzucken. Halvor öffnete ein Auge und sah ihn an. Das andere war von einem großen geleeartigen Klumpen mit schwimmenden Pflastern bedeckt, es sah ungefähr so aus wie eine Qualle. Halvor wollte etwas sagen.
    Sejer hielt sich einen Finger vor den Mund und schüttelte den Kopf. »Nett, dein Grinsen wieder zu sehen, aber du mußt die Klappe halten. Sonst geht die Naht auf.«
    »Kanke«, murmelte Halvor undeutlich.
    Sie blickten einander lange an. Sejer nickte zweimal, Halvor zwinkerte immer wieder mit seinem grünen Auge.
    »Diese Diskette«, sagte Sejer, »die wir bei Johnas gefunden haben. Ist das eine genaue Kopie von Annies Tagebuch?«
    »Mhm.«
    »Nichts ist gelöscht?«
    Halvor schüttelte den Kopf.
    »Nichts verändert oder korrigiert?«
    Weiteres Schütteln.
    »Dann ist’s ja gut«, sagte Sejer langsam.
    »Kanke.« Halvors
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