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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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Schließlich hatte er das Klebeband entfernt und konnte die Plastikplane wegreißen. Er stand auf und schleppte die Rolle ins Wohnzimmer. Sie hörten Hera im Schlafzimmer fiepen. Er bückte sich und versetzte der Rolle einen heftigen Stoß. Der Teppich rollte sich auseinander, langsam und schwerfällig. Im Teppich steckte ein zusammengepreßter Körper. Das Gesicht war zerschlagen. Der Mund und zum Teil auch die Nase, genauer gesagt, deren Überreste, waren verklebt. Sejer schwankte ein wenig, als er auf Halvor hinunterstarrte. Er mußte sich abwenden und einen Moment an die Wand lehnen. Dann machte er das Telefon von seinem Gürtel los. Er blickte aus dem Fenster und gab eine Nummer ein. Sah zu, wie ein Lastkahn flußaufwärts glitt. Die
    Hexagon aus Bremen. Er hörte sie tuten, einen gedehnten, traurigen Ruf. Hier komme ich, schien das Schiff zu sagen. Hier komme ich, aber ich habe keine Eile.
    »Konrad Sejer, Oscarsgate fünfzehn«, sagte er ins Telefon. »Ich brauche Hilfe.«

»HENNING JOHNAS?« Sejer drehte einen Kugelschreiber zwischen den Fingern und starrte sein Gegenüber an. »Wissen Sie, warum Sie hier sind?«
    »Was ist das für eine Frage?« entgegnete Johnas mit heiserer Stimme. »Ich möchte eins klarstellen: Es gibt eine Grenze für das, was ich ertragen kann. Und was Annie betrifft, so habe ich dazu nichts mehr zu sagen.«
    »Hier geht es aber nicht um Annie«, sagte Sejer.
    »Na gut.«
    Johnas rutschte ein wenig in seinem Sessel hin und her, und Sejer glaubte, ein Aufleuchten der Erleichterung über sein Gesicht huschen zu sehen.
    »Halvor Muntz ist wie vom Erdboden verschwunden. Sie sind noch immer sicher, daß Sie ihn nicht gesehen haben?«
    Johnas preßte die Lippen aufeinander. »Absolut sicher. Ich kenne ihn doch gar nicht.«
    »Und da sind Sie sich sicher?«
    »Sie glauben es vielleicht nicht, aber ich bin trotz der wiederholten Schikanen durch die Polizei noch einigermaßen klar im Kopf.«
    »Wir wüßten gern, wie Halvors Motorrad in Ihre Garage gekommen ist. Hinter Ihren Transit.«
    Ein erschrockenes Röcheln war zu hören.
    »Bitte, was haben Sie da gesagt?«
    »Halvors Motorrad.«
    »Das ist das von Magne«, murmelte Johnas. »Ich soll ihm bei der Reparatur helfen.« Er sprach schnell und ohne sein Gegenüber anzusehen.
    »Magne fährt eine Kawasaki. Und Sie haben keine Ahnung von Motorrädern. Sie kommen aus einer, gelinde gesagt, anderen Branche. Erzählen Sie mir keine Geschichten, Johnas.«
    »Na gut, ja.« Johnas brauste auf, er verlor die Beherrschung und klammerte sich mit beiden Händen am Tisch fest. »Er kam einfach in die Galerie, nur um mich zu quälen. Gott im Himmel, was hat er mich gequält! Führte sich wie irgendein verrückter Junkie auf, behauptete, er wolle einen Teppich kaufen. Geld hatte er natürlich nicht. Bei mir gehen so viele seltsame Gestalten aus und ein, ich habe einfach die Beherrschung verloren. Und ihm eine Ohrfeige verpaßt. Danach ist er abgehauen wie ein kleiner Rotzbengel, hat sein Motorrad vergessen und überhaupt. Ich habe es ins Auto geladen und mit nach Hause genommen. Zur Strafe muß er es bei mir abholen. Muß mich anbetteln, damit ich es rausrücke.«
    »Dafür, daß es nur eine Ohrfeige war, ist Ihre Hand aber ziemlich übel zugerichtet.« Sejer starrte die wunden Fingerknöchel an. »Das Problem ist nur, daß kein Schwein weiß, wo er steckt.«
    »Dann ist er wohl mit eingekniffenem Schwanz auf und davon gegangen. Vermutlich hat er aus irgendeinem Grund ein schlechtes Gewissen.«
    »Haben Sie da einen Vorschlag?«
    »Sie ermitteln doch im Mord an seiner Freundin. Vielleicht sollten Sie bei ihm anfangen.«
    »Nun vergessen Sie nicht, Johnas, daß Sie in einem kleinen Ort wohnen. Da verbreiten Gerüchte sich schnell.«
    Johnas schwitzte so heftig, daß ihm das Hemd an der Brust klebte.
    »Ich ziehe ohnehin bald um«, murmelte er.
    »Das haben Sie erwähnt. In die Innenstadt, nicht wahr? Sie haben Halvor also eine Lehre erteilt. Vielleicht sollten wir ihn erst mal links liegenlassen?«
    Sejer fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Es sah nur so aus.
    »Aber vielleicht verlieren Sie ja leicht die Beherrschung, Johnas? Reden wir doch einmal darüber.« Wieder spielte er mit seinem Kugelschreiber. »Fangen wir mit Eskil an.«
    Johnas hatte Glück. Er hatte gerade seine Zigaretten aus der Jackentasche fischen wollen. Während er sich langsam aufrichtete, nutzte er die Zeit, sich zu sammeln.
    »Nein«, stöhnte er. »Ich kann einfach nicht über
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