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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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Eskil reden.«
    »Wir lassen uns einfach Zeit«, sagte Sejer. »Fangen Sie mit dem Tag an, dem siebten November, erzählen Sie, wie Sie aufgestanden sind, Sie und Ihr Sohn.«
    Johnas schüttelte leicht den Kopf und leckte sich nervös die Lippen. Sein einziger klarer Gedanke galt der Diskette, die er nicht mehr hatte lesen können. Sejer mußte sie gefunden und Annies Bericht gelesen haben. Bei diesem Gedanken wäre er fast zusammengebrochen.
    »Es ist schwer, darüber zu sprechen. Ich habe versucht, damit abzuschließen. Warum in aller Welt interessiert Sie diese alte Tragödie? Haben Sie keine neueren Fälle, mit denen Sie sich die Zeit vertreiben können?«
    »Ich weiß ja, daß das nicht leicht ist. Aber versuchen Sie es trotzdem. Ich weiß, daß Sie es schwer hatten und eigentlich Hilfe gebraucht hätten. Erzählen Sie von ihm!«
    »Aber warum wollen Sie über Eskil reden?«
    »Der Junge war ein wichtiger Teil von Annies Leben. Und alles, was mit Annie zu tun hat, muß ans Licht.«
    »Das begreife ich, das begreife ich. Ich bin nur so verwirrt. Einen Moment lang dachte ich schon, Sie verdächtigen mich ... ja, Sie glaubten, daß ich etwas mit Annies Tod zu tun gehabt hätte.«
    Sejer lächelte, ein seltenes, offenes Lächeln. Dann schaute er Johnas verwundert an und schüttelte den Kopf.
    »Aber hätten Sie denn überhaupt ein Motiv für diesen Mord?«
    »Natürlich nicht«, wehrte Johnas erregt ab. »Aber um ehrlich zu sein, es hat mich einiges gekostet, Sie anzurufen und zu melden, daß ich sie mit dem Auto mitgenommen hatte. Ich wußte doch, daß ich mich damit in eine exponierte Stellung brachte.«
    »Das hätten wir auf jeden Fall erfahren. Sie sind doch gesehen worden.«
    »Das hatte ich mir gedacht. Deshalb habe ich angerufen.«
    »Erzählen Sie mir von Eskil«, wiederholte Sejer ungerührt.
    Johnas sank in sich zusammen und zog an seiner Zigarette. Er sah verwirrt aus. Seine Lippen bewegten sich, aber es war kein Laut zu hören.
    In seinen Gedanken war alles ganz klar, aber das Zimmer schien zu schrumpfen, und alles, was er hörte, war der Atem seines Gegenübers. Er warf einen Blick auf die Wanduhr, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Es war früher Abend. Sechs Uhr.
    Es war sechs Uhr. Eskil erwachte und schrie aufgeregt los. Tobte zwischen uns im Bett herum und ließ sich immer wieder fallen. Wollte sofort aufstehen. Astrid brauchte noch etwas Schlaf, sie hatte schlecht geschlafen, deshalb mußte ich einspringen. Eskil folgte mir ins Badezimmer, hing an meiner Hose. Seine Arme und Beine waren überall, und er redete wie ein Wasserfall, ein ewiger Strom aus Geräuschen und Rufen. Danach wand er sich wie ein Aal, während ich verzweifelt versuchte, ihn anzuziehen. Eine Windel wollte er nicht. Er wollte auch die Hose, die ich für ihn herausgelegt hatte, nicht, die ganze Zeit zog er an allem, was er zu fassen kriegte, und schließlich kletterte er auf den Klodeckel, um das Regal unter dem Spiegel auszuräumen. Astrids Tuben und Flaschen fielen herunter. Ich stellte ihn auf den Boden und war sofort im selben Muster gefangen wie so oft. Ich wies ihn zurecht, zuerst freundlich, ich steckte ihm die Beruhigungstabletten in den Mund, aber er spuckte sie immer wieder aus, packte den Duschvorhang und riß ihn herunter. Ich versuchte mich anzuziehen, versuchte aufzupassen, daß er sich nicht verletzte und nichts zerbrach. Schließlich waren wir beide angezogen. Ich hob ihn hoch und trug ihn in die Küche, um ihn auf seinen Stuhl zu setzen. Unterwegs warf er plötzlich den Kopf in den Nacken und traf mich am Mund. Meine Lippe platzte auf und fing an zu bluten. Ich schnallte ihn an und machte ihm ein Brot, aber das wollte er nicht, er schüttelte den Kopf und schob den Teller weg und schrie, er wolle lieber Wurst.
    »Johnas«, sagte Sejer. »Erzählen Sie von Eskil.«
    Johnas kam zu sich und sah ihn an. Dann faßte er einen Entschluß. »Na gut, wie Sie wollen. Der siebte November. Ein Tag wie alle anderen, was bedeutet, ein unbeschreiblicher Tag. Er war ein Torpedo, der die ganze Familie zerstörte. Magnes schulische Leistungen ließen immer mehr nach, er mochte nicht mehr zu Hause sein und verbrachte Nachmittage und Abende bei seinen Freunden. Astrid war ständig übermüdet, ich konnte die Ladenöffnungszeiten nicht einhalten. Jede Mahlzeit war eine Belastung. Annie«, er lächelte plötzlich traurig, »war der einzige Lichtblick. Sie holte ihn immer, wenn sie Zeit hatte. Und dann senkte sich die Stille nach
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