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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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aus. Es hörte sich an, als versuche er einen dicken Brei hervorzuwürgen.
    »Und doch haben Sie sich weitergeschleppt. Sie haben Ihren Hund. Sie haben Ihr Geschäft erweitert, und es läuft immer besser. Man braucht viel Kraft, um wie Sie neu anzufangen.«
    Johnas nickte. Sejers Worte kamen ihm vor wie wohltuendes warmes Wasser.
    Sejer hatte gezielt, und jetzt feuerte er einen neuen Schuß ab.
    »Und dann, als Sie die Sache endlich im Griff hatten und das Leben weiterging - da tauchte Annie auf?«
    Johnas fuhr zusammen.
    »Vielleicht hat sie Sie anklagend angeschaut, wenn Sie ihr auf der Straße begegnet sind? Sie haben sich sicher gefragt, warum sie so unfreundlich war. Als Sie sie dann mit ihrer Schultasche gesehen haben, wollten Sie endlich wissen, was eigentlich los war?«
    Ein Mädchen kam den Hang herunter. Sie erkannte mich sofort und blieb stehen. Ihr Gesicht verzog sich, und sie blickte mich skeptisch an. Ihre ganze Gestalt wies mich ab, sie strahlte etwas Mürrisches, fast Aggressives aus, was mich beunruhigte.
    Sie ging weiter, mit raschen Schritten, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich rief ihren Namen. Ich wollte nicht aufgeben, ich wollte jetzt wissen, was los war. Schließlich stieg sie doch ein, sie umklammerte die Schultasche auf ihrem Schoß. Ich fuhr langsam, wollte einen Satz formulieren, wußte aber nicht so recht, wo ich anfangen sollte, ob ich vielleicht etwas sagen könnte, das für uns beide gefährlich wäre. Also fuhr ich weiter, und aus dem Augenwinkel sah ich ihre schmale Gestalt wie eine einzige große Anklage.
    Ich muß mit jemandem sprechen, setzte ich zögernd an und umklammerte das Lenkrad. Ich habe es nicht leicht.
    Das weiß ich, antwortete sie und starrte aus dem Fenster, aber dann drehte sie sich plötzlich um und sah mich einen Moment lang an. Mir kam das vor wie eine kleine Öffnung, ich versuchte, mich zu entspannen. Noch konnte ich einen Rückzieher machen und die Sache auf sich beruhen lassen, aber sie saß nun einmal da und hörte mir zu. Vielleicht war sie erwachsen genug, um alles zu verstehen, vielleicht wollte sie das ja, eine Art Geständnis, eine Art Bitte um Verzeihung. Annie, die soviel von
    Gerechtigkeit redete.
    Können wir irgendwo hinfahren und miteinander reden, Annie, hier im Auto ist das so schwer. Wenn du ein bißchen Zeit hast, nur ein paar Minuten, dann fahre ich dich nachher, wohin du willst.
    Meine Stimme klang dünn und flehend, ich sah, daß sie das anrührte. Sie nickte langsam und war weniger verkrampft, sie ließ sich auf dem Sitz zurücksinken und starrte wieder aus dem Fenster. Nach einer Weile kamen wir am Laden vorbei, wo ein Motorrad stand. Der Fahrer beugte sich über den Lenker und betrachtete irgend etwas, vielleicht eine Landkarte. Ich fuhr langsam und vorsichtig die holprige Straße zur Kuppe hinauf und hielt auf dem Wendeplatz. Annie sah plötzlich besorgt aus. Ihre Schultasche ließ sie vorn im Wagen stehen, ich versuche, mich zu erinnern, was ich da gedacht habe, aber ich weiß es nicht mehr, ich weiß nur noch, daß wir über den aufgeweichten Weg gegangen sind. Annie war groß und gerade neben mir, jung und standhaft, aber nicht unbeweglich, sie ging mit mir zum Wasser und setzte sich zögernd auf einen Stein. Spielte mit ihren Fingern. Ich erinnere mich an ihre kurzen Nägel und den kleinen Ring an ihrer linken Hand.
    Ich habe dich gesehen, sagte sie leise. Ich habe dich durch das Fenster gesehen. Als du dich über den Tisch gebeugt hast. Dann bin ich weggelaufen. Und dann habe ich gehört, daß Eskil tot war.
    Ich wußte es, antwortete ich mit schwerer Stimme, weil du dich so verhalten hast, weil du mich angeklagt hast. Jeden Tag, wenn wir uns auf der Straße oder bei den Briefkästen oder vor den Garagen begegnet sind. Du hast mich angeklagt.
    Ich mußte weinen. Ich beugte mich vor und schluchzte los, während Annie still neben mir saß. Sie sagte nichts, aber als ich endlich fertig war und aufblickte, sah ich, daß sie auch weinte. Ich fühlte mich besser als seit langer Zeit, wirklich. Ein sanfter Wind streifte meinen Rücken, noch bestand Hoffnung.
    Was soll ich tun, flüsterte ich. Was soll ich tun, um damit fertigzuwerden?
    Sie blickte mich aus ihren grauen Augen fast verwundert an. Zur Polizei gehen natürlich. Und die Wahrheit sagen. Sonst wirst du niemals Frieden finden.
    Das Herz wurde mir schwer. Ich steckte die Hände in die Tasche und versuchte, sie dort zu lassen. Hast du mit irgendwem darüber gesprochen? fragte
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