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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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Ragnhild.
    Tief in ihrem Hinterkopf klingelte ein Warnsignal, aber sie konnte es nicht so richtig deuten.
    »Du bist aber schneller zu Hause, wenn ich dich fahre«, sagte er.
    Damit war der Fall entschieden. Ragnhild war ein praktisches kleines Mädchen, sie schob den Wagen hinter das Auto, und der Fahrer sprang heraus. Er öffnete die Hintertür, hob mit einer Hand zuerst den Wagen und dann Ragnhild hinein.
    »Du mußt hinten sitzen und den Wagen festhalten. Sonst rollt er die ganze Zeit hin und her.«
    Er ging wieder nach vorn, setzte sich und lockerte die Bremse.
    »Gehst du jeden Tag diesen Hang hoch?« Er blickte sie im Rückspiegel an.
    »Nur wenn ich bei Marthe gewesen bin. Ich habe da übernachtet.« Sie zog eine geblümte Toilettentasche unter der Puppendecke hervor und öffnete sie. Überzeugte sich davon, daß alles vorhanden war, das Nachthemd mit dem Bild von Nala, die Zahnbürste und die Haarbürste. Der Kastenwagen rumpelte über eine weitere Rampe. Der Mann schaute noch immer in den Spiegel.
    »Hast du schon mal so eine Zahnbürste gesehen?« fragte Ragnhild und hielt sie für ihn hoch. Sie hatte Füße.
    »Nein!« sagte er begeistert. »Wo hast du die denn her?«
    »Von Papa. Hast du nicht so eine?«
    »Ich wünsch mir eine zu Weihnachten.«
    Endlich lag die letzte Rampe hinter ihm, und er schaltete in den zweiten Gang. Es schepperte entsetzlich. Die Kleine saß hinten auf dem Boden und hielt ihren Puppenwagen fest. Ein richtig süßes kleines Mädchen, dachte er, rot und fein in ihrem Trainingsanzug, wie eine reife kleine Beere. Er stieß einen Pfiff aus und fühlte sich obenauf, als er so hinter dem Lenker des großen Wagens thronte, in dem hinten das kleine Mädchen saß. Richtig obenauf.

DAS DORF LAG IN EINEM TAL am Ende eines Fjordes, unterhalb eines Berges. Wie ein Kolk, in dem das Wasser allzu still stand. Und alle wissen, daß nur fließendes Wasser frisch ist. Das Dorf war das Stiefkind der Gemeinde, die Straßen, die dorthin führten, waren in unbeschreiblich schlechtem Zustand. Ein seltenes Mal hielt ein Bus es für angebracht, bei der stillgelegten Meierei zu halten und Fahrgäste aufzulesen, die in die Stadt wollten. Danach wieder nach Hause zu gelangen war schon schwieriger.
    Der Berg war eine graue Felskuppe, die Einheimischen betraten ihn fast nie, aber von weit her gereiste Besucher frequentierten ihn eifrig. Das lag an seinen ungewöhnlichen Mineralien und der wirklich einzigartigen Flora. An stillen Tagen war vom Gipfel her ein leises Klingeln zu hören, dann konnte man fast an Spuk glauben. In Wirklichkeit grasten oben Lämmer. Die benachbarten Hügel sahen im Dunst blau und luftig aus wie weicher Filz mit einzelnen wolligen Nebelschleiern. Konrad Sejer ließ auf der Karte die Fingerspitze die Straße entlangwandern. Sie näherten sich einem Kreisverkehr. Der Polizeibeamte Karlsen saß hinter dem Lenkrad, er schaute sich aufmerksam um und befolgte Sejers Anweisungen.
    »Jetzt nach rechts durch den Gneisvei, dann den Skiferbakken hoch, dann biegst du links in den Feltspatvei ab. Von dort biegt nach rechts der Granittvei ab. Eine Sackgasse«, sagte Sejer nachdenklich. »Nummer fünf müßte das dritte Haus links sein.«
    Er klang angespannt. Sein Ton noch knapper als sonst.
    Karlsen bugsierte das Auto in eine Neubausiedlung und über die Rampen. Wie so oft hatten sich auch hier die Zuzügler zusammengerottet, ein Stück von den Alteingesessenen entfernt. Abgesehen von den Anweisungen fielen nicht viele Worte. Sie näherten sich dem Haus, versuchten, sich darauf vorzubereiten, hofften, daß das vermißte Kind vielleicht schon zurückgekehrt war. Vielleicht saß die Kleine auf dem Schoß ihrer Mutter, verdutzt und verlegen wegen der ganzen Aufregung. Es war ein Uhr, sie wurde also seit fünf Stunden vermißt. Zwei wären noch erträglich gewesen, fünf waren einwandfrei zu viele. Das Unbehagen wurde immer stärker, wie ein toter Punkt in der Brust, durch den kein Blut mehr strömt. Beide hatten Kinder, Karlsen eine achtjährige Tochter, Sejer einen vierjährigen Enkel. Ihr Schweigen war von Bildern erfüllt, die vielleicht Wirklichkeit werden würden. Dieser Gedanke traf Sejer, als sie vor Nummer fünf hielten. Es war ein niedriges weißes Haus mit dunkelblauen Fensterrahmen. Ein typisches anonymes Fertighaus, wie eine Puppenstube mit dekorativen Fensterläden und geschnitzten Windbrettern verziert. Der Garten war gepflegt. Um das ganze Haus zog sich eine große Veranda mit einem
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