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Verborgene Muster

Titel: Verborgene Muster
Autoren: Ian Rankin
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Prolog
I
    Das Mädchen schrie ein Mal, nur ein Mal.
Und selbst das geschah nur wegen einer Unachtsamkeit seinerseits. Doch es hätte das Ende von
allem bedeuten können, noch bevor es richtig begonnen hatte. Neugierige Nachbarn, die die Polizei
riefen. Nein, so ging das nicht. Beim nächsten Mal würde er den Knebel etwas strammer ziehen, nur
dieses kleine bisschen strammer, das die Sache ein bisschen sicherer machte.
Hinterher ging er an die Schublade und nahm ein Knäuel Schnur heraus. Mit einer dieser scharfen
Nagelscheren, wie sie Mädchen anscheinend immer benutzen, schnitt er ein Stück von etwa fünfzehn
Zentimeter ab, dann legte er Schnur und Schere zurück in die Schublade. Draußen heulte ein
Automotor auf. Er trat ans Fenster. Dabei stieß er einen Stapel Bücher auf dem Fußboden um. Das
Auto war jedoch bereits verschwunden, und er lächelte in sich hinein. Dann machte er einen Knoten
in die Schnur, keinen speziellen Knoten, einfach einen Knoten. Auf dem Sideboard lag ein
Briefumschlag bereit.
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II
    Es war der 28. April. Natürlich regnete es, und das Gras triefte vor Nässe unter seinen Fußen,
als John Rebus zum Grab seines Vaters ging, der auf den Tag genau fünf Jahre tot war. Er legte
einen Kranz in Rot und Gelb, den Farben des Gedenkens, auf den immer noch glänzenden Marmor. Dann
verharrte er einen Augenblick und überlegte, was er sagen könnte, doch es gab nichts zu sagen,
nichts zu denken. Er war ein ganz guter Vater gewesen, und das war's. Der alte Herr hätte sowieso
nicht gewollt, dass er irgendwelche Worte verschwendete. Also stand er da, die Hände ehrerbietig
hinter dem Rücken, während auf den Mauern um ihn herum die Krähen fröhlich krächzten, bis ihm das
Wasser in die Schuhe sickerte und ihn daran erinnerte, dass vor dem Friedhofstor ein warmes Auto
auf ihn wartete.
Er fuhr gemächlich. Er hasste es, wieder in Fife zu sein, wo die alte Zeit nie eine »gute alte
Zeit gewesen« war, wo Geister in verlassenen, leeren Häusern rumorten und wo Abend für Abend an
einer Hand voll trübsinniger Geschäfte die Rollläden heruntergelassen wurden, die den Vandalen
eine Fläche boten, auf die sie ihre Namen schreiben konnten. Wie Rebus das alles hasste, diese
absolut trostlose Gegend. Hier stank es, wie es schon immer gestunken hatte, nach Missbrauch,
nach Stillstand, nach absoluter Vergeudung von Leben.
Er fuhr die acht Meilen in Richtung Meer, dorthin, wo sein Bruder Michael immer noch wohnte. Der
Regen ließ nach, als er sich der schiefergrauen Küste näherte. Aus Tausenden von Rissen in der
Straße spritzte während der Fahrt Wasser auf. Wie kam es, fragte er sich, dass man hier die
Straßen offenbar nie reparierte, während in Edinburgh so oft daran gearbeitet wurde, dass alles
nur noch schlimmer wurde? Und warum vor allen Dingen war er bloß auf die wahnwitzige Idee
verfallen, extra nach Fife zu fahren, nur weil heute der Todestag des alten Herrn war? Er
versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, doch das endete damit, dass er nur noch an
die nächste Zigarette denken konnte.
In dem Regen, der jetzt deutlich schwächer geworden war, sah Rebus ein Mädchen ungefähr im Alter
seiner Tochter. Es ging über den Grasstreifen am Straßenrand. Er drosselte das Tempo und
betrachtete sie im Spiegel, während er an ihr vorbeifuhr. Dann hielt er an und winkte sie zum
Fenster. Ihre kurzen Atemzuge waren in der kalten, ruhigen Luft zu sehen. Das dunkle Haar fiel
ihr zottelig in die Stirn. Sie betrachtete ihn ängstlich.
»Wo willst du hin, mein Kind?«
»Nach Kirkcaldy.«
»Soll ich dich mitnehmen?« Sie schüttelte den Kopf. Wassertropfen flogen aus ihren welligen
Haaren.
»Meine Mutter hat gesagt, ich soll nicht mit Fremden mitfahren.«
»Nun ja«, sagte Rebus lächelnd, »da hat deine Mutter ganz Recht. Ich hab' auch eine Tochter in
deinem Alter, und der sage ich genau dasselbe. Aber es regnet, und ich bin Polizist, deshalb
kannst du mir vertrauen. Außerdem ist es noch ein ganz schönes Stück zu laufen.«
Sie blickte die menschenleere Straße auf und ab, dann schüttelte sie noch einmal den Kopf.
»Okay«, sagte Rebus, »aber sei vorsichtig. Deine Mutter hat wirklich Recht.«
Er kurbelte das Fenster wieder hoch und fuhr weiter. Dabei beobachtete er im Spiegel, wie sie
hinter ihm her sah. Kluges Kind. Es war gut zu wissen, dass es immer noch Eltern mit ein bisschen
Verantwortungsbewusstsein gab. Wenn man das nur von seiner Exfrau behaupten konnte.
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