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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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gegangen, aber sie wußte den Weg nicht, deshalb mußte sie warten. Mit dem Kaninchen auf dem Arm stapfte sie in das kleine Wohnzimmer und rollte sich in der Sofaecke zusammen. Sie und Marthe hatten nachts nicht viel geschlafen, und das warme Tierchen an ihrem Hals ließ sie schläfrig werden. Bald fielen ihr die Augen zu.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis er zurückkam. Lange saß er bei ihr und staunte darüber, wie still sie schlief. Nicht eine einzige Bewegung, kein leises Seufzen. Es kam ihm so vor, als sei sie gewissermaßen aufgegangen, sei größer und wärmer geworden wie ein Hefebrot im Backofen. Nach einer Weile wurde er unruhig, er wußte nicht, wohin mit seinen Händen, deshalb steckte er sie in die Taschen und wiegte sich in seinem Sessel vor und zurück. Rieb den Hosenstoff zwischen seinen Händen und wiegte sich dabei immer schneller. Ängstlich schaute er aus dem Fenster und durch den Flur zum Schlafzimmer seines Vaters hinüber. Seine Hände arbeiteten und arbeiteten. Immer wieder starrte er ihre Haare an, sie glänzten wie Seide, fast wie Kaninchenfell. Dann stöhnte er leise und riß sich los. Stand auf und stupste sie vorsichtig an.
    »Wir können jetzt fahren. Gib mir Wuschel.«
    Einen Moment lang war Ragnhild restlos verwirrt. Sie stand langsam auf und starrte Raymond an. Folgte ihm in die Küche und zog die Windjacke an. Stapfte aus dem Haus, sah das kleine braune Fellknäuel im Käfig verschwinden. Ihr Puppenwagen stand noch hinten im Auto. Raymond sah traurig aus, er stupste sie von hinten an, um ihr beim Einsteigen zu helfen. Dann setzte er sich nach vorn und drehte den Zündschlüssel um. Nichts passierte.
    »Der springt nicht an«, sagte er ärgerlich. »Das kapier ich nicht. Eben ist er doch noch gefahren. Dreckskarre!«
    »Ich muß nach Hause!« sagte Ragnhild laut, als ob das das Problem lösen könnte. Raymond drehte noch einmal den Schlüssel um und gab Gas, und der Motor schien auch zu reagieren, aber nur, um mit klagendem Laut wieder abzusterben.
    »Dann müssen wir laufen.«
    »Aber das ist doch schrecklich weit!« quengelte sie.
    »Nein, von hier aus nicht. Wir sind jetzt hinter der Kuppe, fast ganz oben, und von oben kannst du dein Haus sehen. Ich kann für dich den Wagen schieben.«
    Er zog eine Jacke an, die auf dem Vordersitz gelegen hatte, dann sprang er aus dem Wagen und öffnete für Ragnhild die Hintertür. Ragnhild nahm die Puppe auf den Arm, Raymond zog den Wagen hinter sich her. Der Wagen wackelte über den holprigen Weg. Hoch über sich konnte Ragnhild die Kuppe sehen, die den schwarzen Wald überragte. Für einen lärmenden Moment mußten sie sich an den Straßenrand pressen, als ein Wagen in hohem Tempo an ihnen vorüberjagte. Hinter ihm hing eine nebelweiße Staubwolke. Raymond kannte sich hier aus, er ging auch nicht besonders schnell, deshalb konnte Ragnhild problemlos mit ihm Schritt halten. Nach einer Weile wurde der Hang steiler, die Straße endete in einem Wendeplatz, und der Weg, der rechts um die Kuppe herumführte, war weich und glatt. Die Schafe hatten ihn erweitert, und ihre Kotkügelchen lagen dicht wie Schrotkörner beieinander. Ragnhild fand es lustig, darauf zu treten, sie waren trocken und knackten. Nach wenigen Minuten war zwischen den Bäumen ein schönes Glitzern zu sehen.
    »Der Schlangenweiher«, sagte Raymond.
    Ragnhild blieb neben ihm stehen. Starrte die Seerosenblätter an und ein kleines Boot, das mit dem Boden nach oben am Seeufer lag.
    »Geh nicht ans Wasser«, sagte Raymond. »Das ist gefährlich. Man kann hier nicht baden, man versinkt im Sand und ist weg. Treibsand«, fügte er mit wichtiger Miene hinzu. Ragnhild schauderte. Sie ließ ihren Blick am Seeufer entlangwandern, einer wogenden gelben Linie aus Schilf mit nur einer Unterbrechung, einer dunklen Einbuchtung, die mit gutem Willen als Strand bezeichnet werden konnte. Und diese Stelle starrten sie an. Raymond ließ den Puppenwagen los, und Ragnhild steckte einen Finger in den Mund.

TORBJ0RN MACHTE SICH an seinem Funktelefon zu schaffen. Er war um die Sechzehn und hatte dunkle, halblange, leicht gewellte Haare, die er mit einem gemusterten Tuch bändigte. Die Zipfel ragten wie rote Federn aus dem Knoten auf, weshalb er wie ein bleicher Indianer aussah. Er schaute Ragnhilds Mutter nicht in die Augen, sondern starrte Sejer an und leckte sich immer wieder die Lippen.
    »Du hast da wirklich eine wichtige Entdeckung gemacht«, sagte Sejer. »Bitte, schreib hier die Adresse auf. Weißt
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