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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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ganze Zeit.«
    »Das klingt ja wie eine Strafe«, sagte Sejer. »Legoland ist Klasse. Am Ende des Besuchs bist du garantiert überladen mit Legosteinen und absolut bekehrt. Du solltest unbedingt hinfahren. Du wirst es nicht bereuen.«
    »Du warst also schon mal da?«
    »Ja, mit Matteus. Weißt du, daß die nur aus Legosteinen eine Statue von Sitting Bull gemacht haben? Eins Komma vier Millionen ganz besonders gefärbte Legosteine. Es ist unvorstellbar!«
    Er verstummte, entdeckte auf der linken Seite die Kirche, eine kleine weiße Holzkirche, ein Stück von der Straße entfernt, zwischen grünen und gelben Ackerzipfeln, umstanden von üppigen Bäumen. Ein hübsches Kirchlein, dachte er, hier hätte ich Elise begraben sollen. Auch wenn der Weg dann weiter wäre. Jetzt war es natürlich zu spät. Sie war seit über acht Jahren tot und begraben in der Innenstadt, gleich bei einer vielbefahrenen Hauptstraße, umgeben von Auspuffgasen und Lärm.
    »Du meinst, daß mit der Kleinen alles in Ordnung war?«
    »Hat so ausgesehen. Ich habe die Mutter gebeten anzurufen, wenn sie sich ein wenig beruhigt haben. Sie wird nach und nach sicher ein wenig gesprächiger werden. Sechs Stunden«, sagte er nachdenklich. »Das ist ziemlich lange. Muß ein charmanter Eigenbrötler gewesen sein.«
    »Er hatte ja offenbar einen Führerschein. So ganz außen vor kann er also nicht sein.«
    »Das wissen wir doch nicht, ob er einen Führerschein hat.«
    »Nein, verdammt, da hast du recht«, mußte Karlsen zugeben. Er bremste abrupt und hielt bei der Tankstelle, im sogenannten Zentrum, wo es außerdem noch Post, Bank und Friseur gab. Ein Plakat mit der Mitteilung »Medikamentenausgabe« war ans Fenster des Lebensmittelladens geklebt worden, und der Friseur lockte mit einer neuen Sonnenbank.
    »Ich brauche einen Schokoriegel. Kommst du mit rein?«
    Sie gingen in den Laden, und Sejer kaufte Zeitung und Schokolade. Er schaute aus dem Fenster auf den Fjord hinab.
    »Entschuldigung«, sagte die junge Frau hinter dem Tresen, »aber Ragnhild ist doch hoffentlich nichts passiert?«
    Nervös starrte sie Karlsens Uniform an.
    »Kennen Sie sie?« Sejer legte Geld auf den Tresen.
    »Nein, kennen ist zuviel gesagt, aber ich weiß, wer sie ist. Ihre Mutter hat sie heute morgen hier gesucht.«
    »Ragnhild geht es gut. Sie ist wieder zu Hause.«
    Sie lächelte erleichtert und reichte ihm das Wechselgeld.
    »Sind Sie von hier?« fragte Sejer. »Kennen Sie die meisten Leute?«
    »Ich glaube schon. So viele wohnen hier ja nicht.«
    »Wenn ich frage, ob Sie einen Mann kennen, der möglicherweise ein wenig eigen ist und der einen Kastenwagen fährt, einen alten, häßlichen und fleckigen Kastenwagen, klingelt es dann bei Ihnen irgendwo?«
    »Hört sich an wie Raymond.« Sie nickte. »Raymond Lake.«
    »Was wissen Sie über ihn?«
    »Er arbeitet in der Behindertenwerkstätte. Wohnt mit seinem
    Vater in der Bruchbude auf der anderen Seite der Kuppe. Raymond ist mongoloid. Dreißig Jahre alt vielleicht und sehr lieb. Sein Vater hatte übrigens früher diese Tankstelle. Ehe er in Rente ging.«
    »Hat er einen Führerschein?«
    »Nein, aber er fährt trotzdem. Mit dem Auto seines Vaters. Der Alte ist bettlägerig, er kann nichts dagegen machen. Der Lensmann weiß Bescheid und staucht ihn ab und zu zusammen, aber das hilft nicht viel. Er ist sehr komisch, fährt immer im zweiten Gang. Hat er Ragnhild mitgenommen?«
    »Ja.«
    »Dann konnte ihr wirklich nichts passieren.« Sie lächelte. »Raymond würde sogar anhalten, um einen Marienkäfer über die Straße zu lassen.«
    Mit immer breiter werdendem Lächeln gingen sie wieder zu ihrem Auto. Karlsen biß in seinen Schokoriegel und schaute auf die Uhr.
    »Nett hier«, sagte er kauend.
    Sejer, der sich ein altmodisches Marzipanbrot gekauft hatte, folgte seinem Blick. »Der Fjord ist tief, über dreihundert Meter. Wird nie wärmer als siebzehn Grad.«
    »Kennst du hier Leute?«
    »Ich nicht, aber meine Tochter, Ingrid. Sie war hier auf einer heimatkundlichen Wanderung von der Sorte, wie sie im Herbst arrangiert werden. >Lern dein Dorf besser kennen.< So was liebt sie.« Er wickelte das Silberpapier zu einem dünnen Röllchen auf und schob es in seine Hemdentasche. »Können Mongoloide gute Autofahrer werden, was meinst du?«
    »Keine Ahnung«, sagte Karlsen. »Aber denen fehlt ja nichts, nur haben sie eben ein Chromosom zuviel. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist ihr größtes Problem, daß sie langsamer lernen als
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