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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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du noch, wie die Frau hieß?«
    »Helga Moen. Nummer eins. Graues Haus mit Hundehütte.«
    Er flüsterte das fast und schrieb die Adresse mit großen Buchstaben auf den Block, den Sejer ihm gereicht hatte.
    »Ihr wart fast überall?« fragte Sejer.
    »Wir waren zuerst auf der Kuppe, dann sind wir um den Schlangenweiher herumgegangen und haben uns auf den Waldwegen ein bißchen umgesehen. Wir waren auch an der Talsperre, beim Laden in Horgen und am Prestegardsstrand. Und bei der Kirche. Und dann haben wir uns noch auf zwei Höfen, in Bjerkerud und im Pferdesportzentrum erkundigt. Ragnhild war, äh, ich meine, ist sehr an Pferden interessiert.«
    Bei diesem Versprecher errötete er leicht. Sejer klopfte ihm auf die Schulter.
    »Setz dich, Torbj0rn.«
    Er nickte zum Sofa hinüber, auf dem neben Frau Album noch Platz war. Jetzt hatte sie ein anderes Stadium erreicht, sie konzentrierte sich mit aller Gewalt auf die schwindelerregende Möglichkeit, daß Ragnhild vielleicht nie wieder nach Hause zurückkehrte und daß sie den Rest ihres Lebens ohne das kleine Mädchen mit den großen blauen Augen würde verbringen müssen. Diese Erkenntnis setzte wie kleine Stiche ein, mit denen sie sich behutsam vertraut machen mußte. Ihr Körper war wie erstarrt, so als habe sie eine Stahlschiene im Rücken. Die Beamtin, die bisher kaum ein Wort gesagt hatte, erhob sich langsam. Zum erstenmal wagte sie, einen Vorschlag zu machen.
    »Frau Album«, bat sie leise, »darf ich uns einen Kaffee kochen?«
    Frau Album nickte kurz, stand dann auf und folgte der Beamtin in die Küche. Ein Wasserhahn wurde aufgedreht, Tassen klirrten. Sejer nickte unmerklich zu Karlsen hinüber und winkte ihn auf den Flur. Dort tuschelten sie miteinander. Torbj0rn sah gerade noch Sejers Kopf und Karlsens schwarze, glänzende Schuhspitzen. Im Halbdunkel konnten sie unbemerkt auf die Uhr schauen. Das taten sie, dann nickten sie einander zu. Ragnhilds Verschwinden war blutiger Ernst, und der große
    Apparat mußte in Gang gesetzt werden. Sejer kratzte sich durch sein Hemd hindurch am Ellbogen.
    »Ich kann die Vorstellung, sie in einem Graben zu finden, nicht ertragen.«
    Er öffnete die Tür, um frische Luft zu schnappen. Und da stand sie. In rotem Trainingsanzug, auf der untersten Stufe, ein weißes Händchen lag auf dem Geländer.
    »Ragnhild?« fragte er verwundert.
    Eine glückliche halbe Stunde später, als der Wagen Skiferbakken hinunterglitt, fuhr er sich zufrieden mit den Fingern durchs Haar. Karlsen fand, daß es, so frischgeschnitten und kürzer als sonst, einer Stahlbürste ähnelte. So einer, mit der alte Farbe weggekratzt wird. Das scharfgeschnittene Gesicht sah friedlich aus, nicht verschlossen und ernst wie sonst. Auf halber Höhe des Hangs kamen sie an dem grauen Haus vorbei. Sie sahen die Hundehütte und ein Gesicht im Fenster. Wenn Helga Moen auf Besuch von der Polizei gehofft hatte, dann würde sie enttäuscht werden. Ragnhild saß wohlgeborgen auf dem Schoß ihrer Mutter und hielt ein dickes Butterbrot in der Hand.
    Den Augenblick, als die Kleine das Haus betreten hatte, würden die beiden nie vergessen. Die Mutter, die das leise Stimmchen gehört hatte, stürzte aus der Küche und riß sie an sich, blitzschnell, wie ein Raubtier seine Beute packt, die es nie, nie wieder loslassen will. Ragnhild saß fest wie in einem Fuchseisen. Ihre dünnen Glieder und der weiße Haarbüschel lugten zwischen den kräftigen Armen der Mutter hervor. Und so blieben sie stehen. Nichts war zu hören, außer dem leisen Schluchzen von einer der beiden. Torbj0rn machte sich wütend an seinem Telefon zu schaffen, die Beamtin klapperte mit den Tassen, Karlsen zwirbelte und zwirbelte seinen Schnurrbart, ein glückseliges Grinsen breitete sich aus. Im Zimmer wurde es heller, so als treffe die Sonne plötzlich voll auf die Fensterscheibe. Und dann rief die Mutter, lachend und schluchzend zugleich: »DU SCHRECKLICHES KIND!«
    »Ich spiele mit dem Gedanken«, sagte Sejer und räusperte sich, »eine Woche Urlaub zu nehmen. Ich habe noch allerhand abzustottern.«
    Karlsen ließ den Wagen über eine Rampe schaukeln.
    »Was willst du in der Zeit machen? Fallschirm springen in Florida?«
    »Ich will das Ferienhaus klarmachen.«
    »Das ist doch in der Nähe von Brevik, oder?«
    »Sand0ya.«
    Sie bogen auf die Hauptstraße ab und fuhren schneller.
    »Ich muß dieses Jahr nach Legoland«, murmelte Karlsen. »Ich kann mich nicht länger daran vorbeimogeln. Die Kleine quengelt schon die
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