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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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Sie die Sache erst einmal für sich. Wir melden uns.«
    Er legte auf und schloß sein in Gedanken bereits geöffnetes Ferienhaus wieder ab. Sofort war der Geruch von Gischt und frischgefangenem Kabeljau verschwunden. Er lächelte schräg zu Holthemann hinüber.
    »Du, ich muß erst noch was erledigen.«
    Karlsen war auf Streife, im einzigen Dienstwagen, der ihnen an diesem Tag zur Verfügung stand; damit mußte er den ganzen Stadtkern ab klappern. Deshalb nahm Sejer Skarre mit, einen jungen lockigen Beamten, der ungefähr halb so alt war wie er selbst. Skarre war ein lustiger kleiner Mann, munter und optimistisch, mit Resten eines südnorwegischen Akzents, der durchbrach, wenn sein Puls schneller wurde. Sie hielten wieder vor dem Briefkasten im Granittvei und unterhielten sich eine Weile mit Irene Album. Ragnhild hing ihr die ganze Zeit am Rockzipfel. Offenbar hatten allerlei Ermahnungen ihren Weg in den weißhaarigen Kinderkopf gefunden. Die Mutter zeigte und erklärte, sagte, sie sollten einem markierten Weg folgen, der gegenüber vom Haus am Waldrand begann und dann links an der Kuppe vorbeiführte. So gut in Form, wie sie waren, würden sie dafür wohl zwanzig Minuten brauchen.
    Die Tannen waren mit blauen Pfeilen bemalt. Sejer und sein Kollege starrten skeptisch den Schafskot an, wichen ab und zu aufs Heidekraut aus, wanderten aber zielstrebig bergauf. Sejer ging leicht und unbeschwert. Einmal blieb er stehen, drehte sich um und blickte auf die Neubausiedlung hinunter. Jetzt waren nur die Dächer zu sehen, braunrosa und schwarz in der Ferne. Dann gingen sie weiter, schweigend, einerseits, weil sie allen Sauerstoff brauchten, um die Füße zu heben, andererseits, weil sie sich vor dem fürchteten, was sie vielleicht finden würden. Der Wald war hier so dicht, daß sie im Halbdunkeln gingen. Sejer richtete mechanisch seinen Blick auf den Boden, nicht weil er Angst hatte zu stolpern, sondern um Spuren zu finden. Wenn dort oben wirklich etwas passiert war, dann konnte alles wichtig sein. Sie waren seit genau siebzehn Minuten unterwegs, als der Wald sich öffnete und ihnen Tageslicht entgegenströmte. Jetzt sahen sie das Wasser. Einen spiegelblanken Weiher, nicht größer als ein großer Teich. Er lag zwischen den Tannen wie ein geheimer Raum. Einen Moment lang ließen sie ihre Blicke schweifen. Folgten der gelben Schilflinie und entdeckten ein Stück entfernt etwas, das sie für einen Strand hielten. In sicherer Entfernung vom Wasser gingen sie auf diesen Strand zu, der Schilfgürtel war breit, und sie trugen nur normale Straßenschuhe. Strand war eigentlich viel zu hoch gegriffen. Es handelte sich eher um eine sumpfige Stelle mit vier oder fünf großen Felsen, gerade genug, um das Schilf auszusperren, und vielleicht die einzige Stelle, die Zugang zum Wasser bot. In Dreck und Modder lag eine Frau. Sie lag auf der Seite, kehrte ihnen den Rücken zu, eine dunkle Windjacke bedeckte ihren Oberkörper, ansonsten war sie nackt. Neben ihr lagen übereinander blaue und weiße Kleidungsstücke. Sejer blieb stehen und griff automatisch nach dem Telefon an seinem Gürtel. Dann entschied er sich dagegen. Er verließ den Weg und näherte sich der Frau vorsichtig. Dabei hörte er, wie der Schlamm unter seinen Schuhen gurgelte.
    »Stehenbleiben«, sagte er leise.
    Skarre gehorchte. Sejer hatte jetzt das Wasser erreicht, er setzte den Fuß auf einen Felsen und konnte die Frau von vorn sehen. Er wollte sie nicht anfassen, jetzt noch nicht. Ihre Augen waren ein wenig eingesunken. Sie waren halb offen und auf einen Punkt draußen im Wasser gerichtet. Die Augäpfel waren matt und runzlig. Die Pupillen groß und nicht mehr ganz rund. Der Mund war offen, und an den Lippen, teilweise auch über der Nase, klebte gelblichweißer Schaum, so als habe sie etwas erbrochen. Sejer bückte sich und blies, der Schaum bewegte sich nicht. Das Gesicht der Frau war nur wenige Zentimeter vom Wasser entfernt. Er legte zwei Finger auf ihre Halsschlagader. Die Haut war nicht mehr elastisch, jedoch nicht so kalt, wie er erwartet hatte.
    »Tot«, sagte er.
    An Ohrläppchen und Hals entdeckte er schwache rotviolette Flecken. Die Haut der Beine war zur Gänsehaut geworden, ansonsten aber makellos. Er ging aufs feste Ufer zurück. Skarre hatte die Hände in die Taschen gesteckt und schien nicht recht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Er hatte schreckliche Angst davor, einen Fehler zu machen.
    »Ganz nackt unter der Jacke. Keine sichtbaren äußeren
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