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Schwaben-Angst

Schwaben-Angst

Titel: Schwaben-Angst
Autoren: Klaus Wanninger
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1. Kapitel
    Gerade als sie umkehren wollte, brach plötzlich die Sonne zwischen den Wolken hervor.
    Wochenlang hatte es fast ohne Unterbrechung geregnet, hatten immer neue graue Schleier den Himmel verhüllt. Fast der gesamte September, in anderen Jahren ein Monat voller Sonne, Wärme und üppig reifender Früchte, war dem nasskalten, viel zu früh ins Land gezogenen Herbstschmuddel zum Opfer gefallen. Frust und Verbitterung über das ekelhafte Wetter hatte viele Menschen erfasst. Jetzt aber zeigten sich erstmals wieder die Strahlen der Sonne.
    Monique Gilbner blieb mitten auf dem breiten, mit Kies ausgelegten Weg stehen, der zur Grabkapelle der Königin Katharina auf dem Württemberg hinaufführte, und starrte zum Himmel. Die Wolkendecke war aufgerissen, Kaskaden von gleißendem Licht verzauberten die Landschaft mit einem spätsommerlichen Panorama.
    Sie begriff es sofort als gutes Omen. Über Wochen hinweg hatten sie sich vorbereitet, Texte, Schritte, Abläufe auswendig gelernt, gemeinsam eingeübt und gestern in der Generalprobe – mit wenigen Patzern zwar, doch weitgehend bühnenreif – einem sorgsam ausgewählten Publikum vorgestellt. Heute Abend sollte
Das Fräulein Pollinger
vor seit langer Zeit ausverkauftem Haus seine Premiere erleben.
    Monique Gilbner ließ die überraschendsten Elemente der überaus mutigen und unkonventionellen Neuinszenierung in Gedanken nochmals Revue passieren, war gespannt auf die Reaktion der Zuschauer. Die
tri-bühne
war eines der kleinsten Stuttgarter Häuser, jedoch als Experimentaltheater Sprungbrett für viele junge Schauspieler. Ein Erfolg als
Fräulein Pollinger
, der ersten Hauptrolle ihrer vor drei Jahren gestarteten Karriere, eröffnete ihr – so hoffte sie – Chancen auf einen Platz in einem größeren, bekannteren Ensemble.
    Sie wandte ihren Blick vom Himmel ab, weil sie von den weißgoldenen Strahlen geblendet wurde, sah, wie die Sonne immer größere Teile der Umgebung in ein ungewohnt warmes Licht tauchte. Die Rebhänge der umliegenden Hügel leuchteten in kräftig grünen, vereinzelt schon gelben Tönen. Die Dächer Rotenbergs auf der Spitze der lang gestreckten Hügelkette präsentierten ihre frisch gewaschenen roten Ziegel. Hoch über ihr blinkte das Kreuz auf der Grabkapelle in glänzendem Gold.
    Monique Gilbner gab sich dem Schauspiel der aus dem Regendämmer neu erwachenden Natur hin, fühlte intuitiv, dass die Premiere am Abend Publikum und Kritiker überzeugen und dem jungen Ensemble den erhofften Erfolg bringen musste. Die ernüchternd realistische Geschichte eines in armseligen Verhältnissen aufgewachsenen, naiv-leichtgläubigen Landmädchens, das unter dem Einfluss skrupelloser Lebemänner der Prostitution verfällt, ohne sich dieser Entwicklung vollkommen bewusst zu werden, verkörperte in ihrer Ursprungsfassung schon so viel herbe Melancholie, dass es auch weniger sensiblen Gemütern schwer fallen musste, diesen besonderen Reiz nicht deutlich wahrzunehmen. Was der erfahrene Regisseur dazu noch kurz vor dem Ende des Theaterstücks eingefügt, wie er es überhaupt inszeniert und die Zuschauer ohne deren anfängliches Wissen mitten ins Geschehen eingebunden hatte, das versprach, außergewöhnliche Begeisterung für
Das Fräulein Pollinger
zu entfachen.
    Monique Gilbner hatte den Kiesweg, der zur Grabkapelle hinaufführte, verlassen, ließ ihre Augen über die Umgebung des Württembergs schweifen. Die sich im warmen Licht der Sonne dehnenden Rebhänge schienen zu atmen: Ein feiner Schleier nebliger Feuchtigkeit hing über den Senken zwischen den Hügeln.
    Sie schaute am nahen Mönchberg hoch, folgte mit ihrem Blick den dicht belaubten und von rosinengroßen, blauen Trauben bewachsenen Rebenzeilen, die sich steil nach oben wanden. Wenige Meter von ihr entfernt parkte ein Traktor-ähnliches Gefährt, gerade schmal genug, die Wege zwischen den Rebstöcken passieren zu können. Der Anhänger des Weinberg-Schleppers war mit landwirtschaftlichen Geräten beladen. Wer den Traktor dorthin chauffiert hatte, war nicht zu erkennen; keine Menschenseele schien in der Nähe.
    Sie wollte ihre Augen gerade wieder abwenden, als sie plötzlich unmittelbar daneben ein helles Glitzern bemerkte. Sie starrte auf den nassen Boden, sah wenige Meter entfernt eine langstielige Hacke, deren metallisch-silberne Zinken die Sonnenstrahlen reflektierten. Plötzlich begann die junge Schauspielerin am ganzen Körper zu zittern. Die Textseiten des
Fräulein Pollinger
glitten ihr aus den
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