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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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sagte sie überwältigt.
    »Ja, möchtest du sie dir mal anschauen?«
    Er sprang aus dem Wagen, öffnete die Hintertür und hob sie heraus. Er hatte einen seltsamen Gang, seine Beine waren unnatürlich kurz, und er war stark o-beinig. Er hatte kleine Füße. Die breite Nase saß fast unmittelbar über der ein wenig vorstehenden Unterlippe. Unter der Nase hing ein dicker klarer Tropfen. Ragnhild stellte fest, daß er noch nicht sehr alt war, auch wenn er beim Gehen schwankte wie ein alter Mann. Das war irgendwie komisch. Ein Jungengesicht auf einem alten Körper. Er wackelte zu den Kaninchenställen hinüber und machte sie auf. Ragnhild stand wie festgewachsen da.
    »Darf ich mal eins halten?«
    »Ja. Such dir eins aus.«
    »Das kleine braune«, sagte sie hingerissen.
    »Das ist Wuschel. Er ist der Schönste von allen.«
    Er nahm den kleinen Wicht aus dem Käfig. Ein molliger Widder mit Hängeohren, hellbraun wie Kaffee mit sehr viel Milch. Er strampelte wild mit den Beinen, beruhigte sich in Ragnhilds Armen aber sofort. Für einen Moment war sie einfach sprachlos. Sie spürte sein Herz gegen ihre Hand hämmern und berührte vorsichtig ein Ohr. Es fühlte sich zwischen ihren Fingern an wie ein Stück Samt. Die Schnauze glänzte schwarz und feucht wie eine Lakritzpastille. Raymond stand daneben und sah zu. Jetzt hatte er ein Mädchen ganz für sich allein, und niemand hatte sie gesehen.

»DAS BILD«, SAGTE SEJER, »und die Beschreibung reichen wir an die Zeitungen weiter. Wenn sie nichts Gegenteiliges hören, drucken sie das heute nacht.«
    Irene Album sank über dem Tisch in sich zusammen und wimmerte. Die anderen starrten stumm ihre eigenen Hände und Frau Albums bebenden Rücken an. Die Beamtin hielt ein Taschentuch bereit. Karlsen scharrte ein wenig mit den Stuhlbeinen und schaute auf die Uhr.
    »Hat Ragnhild Angst vor Hunden?« fragte Sejer.
    »Warum wollen Sie das wissen?« schluchzte Frau Album.
    »Es ist schon vorgekommen, daß Kinder, die wir mit der Hundestreife gesucht haben, sich versteckten, wenn sie unsere Schäferhunde hörten.«
    »Sie hat keine Angst.«
    In Gedanken wiederholte er diese Worte. Sie hat keine Angst.
    »Sie haben Ihren Mann noch nicht erreichen können?«
    »Der ist in Narvik zum Manöver«, schluchzte sie. »Irgendwo in den Bergen.«
    »Haben die keine Mobiltelefone?«
    »Sie sind außerhalb der Reichweite.«
    »Und die Leute, die jetzt schon suchen, was sind das für welche?«
    »Jungen aus der Nachbarschaft. Die, die tagsüber zu Hause sind. Einer hat ein Telefon bei sich.«
    »Wie lange sind sie schon unterwegs?«
    Sie schaute zur Wanduhr. »Über zwei Stunden.«
    Ihre Stimme zitterte nicht mehr, jetzt klang sie wie unter
    Drogen, träge fast schon wie im Schlaf. Er beugte sich wieder vor und sprach so langsam und deutlich wie möglich mit ihr.
    »Das, wovor Sie sich am allermeisten fürchten, ist höchstwahrscheinlich nicht passiert. Verstehen Sie? In der Regel verschwinden Kinder aufgrund irgendwelcher Bagatellen. Und es ist wirklich so, daß Kinder immer wieder verschwinden, eben weil sie Kinder sind. Sie besitzen weder Zeit- noch Verantwortungsgefühl, und sie sind so verflixt neugierig, daß sie jedem plötzlichen Impuls nachgeben. So sind Kinder eben, und deshalb verschwinden sie. Aber meistens tauchen sie ebenso plötzlich wieder auf, wie sie verschwunden sind. Oft können sie nicht einmal so recht erklären, wo sie gewesen sind oder was sie gemacht haben. Aber in der Regel«, er holte Atem, »ist ihnen nichts passiert.«
    »Ja!« sagte sie und starrte ihn an. »Aber sie war noch nie verschwunden!«
    »Sie wird eben größer«, sagte er mit eindringlicher Stimme. »Sie traut sich mehr.«
    Gott helfe mir, dachte er gleichzeitig, ich weiß aber auch wirklich auf alles eine Antwort. Wieder stand er auf, um zu telefonieren. Unterdrückte den Wunsch, noch einmal auf die Uhr zu schauen, das hätte sie daran erinnert, daß die Zeit verging, und daran brauchte sie nun wirklich nicht erinnert zu werden. Er wurde mit der Kripo verbunden, faßte für die Kollegen kurz die Lage zusammen und bat sie, den Rettungsdienst zu informieren. Er nannte die Adresse im Granittvei und beschrieb die Verschwundene in aller Kürze. Rot angezogen, fast weiße Haare, rosa Puppenwagen. Er fragte, ob irgendwelche Meldungen eingelaufen seien, was aber nicht der Fall war. Er setzte sich wieder.
    »Hat Ragnhild in letzter Zeit Personen erwähnt, die Ihnen unbekannt sind?«
    »Nein.«
    »Hatte sie Geld bei
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