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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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aufgetaucht?«
    »Nein. Aber wie ich höre, haben Sie sie gesehen, als Sie aus dem Haus gingen.«
    »Ich wollte gerade mein Garagentor abschließen.«
    »Haben Sie auf die Uhr geschaut?«
    »Die zeigte acht Uhr sechs, ich war ein bißchen spät dran.«
    »Wissen Sie das ganz sicher?«
    »Ich habe eine Digitaluhr.«
    Sejer schwieg und versuchte, sich die Straße hierher ins Gedächtnis zu rufen.
    »Sie haben sie also um acht Uhr sechs bei Ihrer Garage zurückgelassen und sind direkt zur Arbeit gefahren?«
    »Ja.«
    »Zum Gneisvei hinunter und dann auf die Hauptstraße?«
    »Stimmt.«
    »Ich stelle mir vor«, sagte Sejer, »daß um diese Zeit die meisten in Richtung Stadt fahren und daß in der Gegenrichtung wahrscheinlich kein starker Verkehr ist.«
    »Ja, das ist richtig. Durch das Dorf hier fahren nicht viele. Und Arbeitsplätze gibt es auch nicht.«
    »Sind Ihnen heute trotzdem irgendwelche Wagen begegnet? Die in Richtung Dorf unterwegs waren?«
    Der andere dachte nach. Sejer wartete. Im Zimmer war es still wie in einer Grabkammer.
    »Ja, stimmt, mir ist unten im Tal einer begegnet. Gleich vor dem Kreisverkehr. Ein Kastenwagen, glaube ich, fleckig und häßlich. Ist sehr langsam gefahren.«
    »Und wer saß drin?«
    »Ein Mann«, sagte Isaksen zögernd. »Nur ein einzelner Mann.«

»ICH HEISSE RAYMOND.« Er lächelte.
    Ragnhild blickte auf, sah im Spiegel das lächelnde Gesicht und die in der Morgensonne badende Kuppe.
    »Fahren wir eine Runde?«
    »Mama wartet auf mich.«
    Sie sagte das in einem fast altklugen Tonfall.
    »Warst du schon mal oben auf der Kuppe?«
    »Ein Mal mit Papa. Zum Picknick.«
    »Man kann auch mit dem Auto hochfahren«, erklärte er. »Von der Rückseite her. Sollen wir das mal machen?«
    »Ich will nach Hause«, sagte sie, jetzt ein wenig unsicher.
    Er schaltete und hielt an.
    »Nur eine kleine Runde?« bettelte er.
    Seine Stimme klang dünn. Ragnhild fand sie richtig traurig. Und sie war es nicht gewöhnt, sich den Wünschen der Erwachsenen zu widersetzen. Sie stand auf, ging zu seinem Sitz und beugte sich vor.
    »Nur eine kleine Runde«, wiederholte sie. »Auf die Kuppe und dann sofort nach Hause.«
    Er setzte in den Feltspatvei zurück und fuhr wieder bergab.
    »Wie heißt du?« fragte er.
    »Ragnhild Elise.«
    Er wackelte ein wenig hin und her und räusperte sich schulmeisterlich.
    »Ragnhild Elise. Du kannst so früh am Morgen nicht einkaufen gehen. Es ist doch erst Viertel nach acht. Der Laden hat noch zu.«
    Sie gab keine Antwort. Statt dessen hob sie Elise aus dem Wagen, nahm sie auf den Schoß und zupfte ihr Kleid zurecht. Danach zog sie ihr den Schnuller aus dem Mund. Sofort schrie die Puppe los, ein dünnes metallisches Kleinkinderweinen.
    »Was ist denn das?«
    Er bremste abrupt und schaute in den Spiegel.
    »Das ist nur Elise. Die weint, wenn ich ihr den Schnuller wegnehme.«
    »Ich will das nicht hören! Steck ihn wieder rein!«
    Jetzt saß er nervös hinter dem Lenkrad, der Wagen schlingerte hin und her.
    »Papa kann besser fahren als du«, sagte sie.
    »Ich mußte mir das selber beibringen«, erwiderte er mürrisch. »Niemand wollte mir Stunden geben.«
    »Warum denn nicht?«
    Er antwortete nicht, warf nur den Kopf in den Nacken. Sie hatten die Hauptstraße erreicht, er fuhr im zweiten Gang zum Kreisverkehr und überquerte mit heiserem Brüllen die Kreuzung.
    »Und jetzt sind wir gleich in Horgen«, sagte sie zufrieden.
    Er sagte noch immer nichts. Zehn Minuten später bog er nach links ab und fuhr den Hang hinauf. Sie kamen an zwei Höfen vorbei, an roten Scheunen und dem einen oder anderen abgestellten Traktor. Die Straße wurde immer schmaler und holpriger. Ragnhilds Arme, die noch immer den Puppenwagen festhielten, wurden langsam müde, sie legte die Puppe auf den
    Boden und hielt einen Fuß als Bremse zwischen die Räder.
    »Hier wohne ich«, sagte er plötzlich und hielt an.
    »Mit deiner Frau?«
    »Nein, mit meinem Vater. Aber der liegt im Bett.«
    »Steht er so spät auf?«
    »Er muß immer liegen.«
    Neugierig schaute sie aus dem Fenster und erblickte ein witziges Haus. Ursprünglich war es eine Hütte gewesen, die erst einen und dann noch einen Anbau erhalten hatte. Die Anbauten waren von unterschiedlicher Farbe. Neben dem Haus stand eine Garage aus Wellblech. Der Hof war zugewachsen. Eine alte verrostete Egge wurde langsam von Brennesseln und Löwenzahn begraben. Aber Ragnhild interessierte sich nicht für das Haus, sie hatte etwas anderes entdeckt.
    »Kaninchen!«
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