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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna
Autoren: River
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1
     
    E R KAM ZU F Uß . Wie eine Fata Morgana erschien er zwischen den flirrenden Hitzewogen auf der Straße, die sich bis zu unserem Tor wand. Ich beobachtete ihn aus dem Schatten unserer geschlossenen Veranda heraus.
    An jenem heißen Julitag im Jahr 1966 war ich vierzehn, und bis zu meinem Geburtstag waren es nur noch ein paar Wochen. Ich lehnte an der Verandatür und blinzelte in die Sonne, während aus der Wäscheschleuder hinter mir die letzten Wassertropfen abflossen. Draußen hing die Wäsche einer ganzen Woche schlaff und reglos auf den drei Wäscheleinen, die quer über den Hof gespannt waren. Betttücher, deren Weiß im gleißenden Sonnenlicht schmerzte, bildeten die Kulisse für den geordneten Aufmarsch der Textilien unserer gesamten Familie. Davor agierte Mom auf dem Trockenplatz, den Mund voller Wäscheklammern, den Rücken der Straße zugekehrt. Sie bückte sich, nahm aus dem Weidenkorb zu ihren Füßen ein feuchtes Jeanshemd, schüttelte es energisch aus und klammerte es an die Leine.
    Irgendetwas an meiner Mutter war an diesem Tag anders. An Waschtagen trug sie meist ein Kopftuch, dessen Enden sie mitten auf der Stirn zusammenknotete. An diesem Nachmittag jedoch hatte sie sich ihr Haar mit Nadeln und Kämmen hochgesteckt. Nur widerspenstige blonde kleine Strähnen hatten sich um ihr Gesicht herum und im Nacken gelöst. Aber es war noch etwas anderes. Sie war zerstreut, hatte sogar gerötete Wangen. Bestimmt hatte sie einen Hauch Avon Rouge aufgelegt. Sie hatte mich schon vorher, als sie die Jeans meiner Brüder durch die Schleuder jagte, dabei ertappt, wie ich ihr Gesicht betrachtete.
    »Ach, das ist nur die Hitze«, sagte sie, strich sich die Haare zurück und schob sie hinter die Ohren.
    Doch während sie die letzte Ladung aufhängte, beachtete sie die Straße nicht, und so erblickte ich ihn vor ihr. Ich sah zu, wie er bei unserer hinteren Weide um die Biegung kam. Er stieg über das Viehgatter, ging durch die flimmernden Schatten der Pappeln, dann wieder im grellen Sonnenlicht. Er trug einen großen grünen Matchsack über der einen Schulter und über der anderen einen schwarzen Gegenstand. Als er näher kam, erkannte ich, dass es ein Gitarrenkoffer war, der im Rhythmus seiner gemächlichen Schritte gegen seinen Rücken wippte.
    Hippie . Ein neues Wort in meinem Wortschatz. Ein fremdes Wort. Es stand für seltsam gekleidete junge Amerikaner, die sich den Frieden wünschten: »Make Love, Not War!« Es stand für Leute, die gegen den Vietnamkrieg demonstrierten und Blumen in die Gewehrläufe der Bereitschaftspolizisten steckten. Man munkelte, dass einige über die Grenze, die drei Kilometer südlich von unserer Farm verlief, nach Kanada kämen. Bis jetzt waren das nichts als Gerüchte. Gerüchte und die flimmernden Fernsehbilder, deren Empfang in unserem Tal zwischen den Bergen reine Glückssache war. Einen Hippie aus Fleisch und Blut hatte ich noch nicht gesehen. Bis jetzt.
    »Was ist?« Moms Stimme holte mich aus meiner Trance. Sie kam herein und übergab mir den leeren Korb. Noch bevor ich antworten konnte, wandte sie sich um und blickte die Straße hinunter. Inzwischen hatte unser Hütehund Buddy den Kopf gehoben und schoss von der unteren Verandastufe los, auf der er in der Nachmittagssonne gedöst hatte. Der Border-Collie sprang über den Palisadenzaun, flitzte am Viehstall vorbei, ein einziger schwarz-weißer Wirbelwind, und bellte eine verspätete Warnung.
    »Buddy!«, rief Mom ihm nach. Doch da kniete der langhaarige Fremde schon im Straßenstaub und sprach beruhigend auf den Hund ein. Einen Moment später setzte er, mit Buddy an der Seite, den Weg zum Hof hinauf fort. Als der Border-Collie ihm die Hand leckte, lächelte er uns von der anderen Seite des Zauns zu. Mom lächelte zurück, strich sich die feuchte Schürze glatt und ging die Verandastufen hinunter. Ich zögerte nur einen Augenblick, dann stellte ich den Wäschekorb ab und folgte ihr. Wir trafen ihn am Tor.
    Mom hatte ihn erwartet.
    Was sie nicht erwartet hatte, war all das Leid, das wie ein kalter Wind folgen sollte.

2
     
    I CH HÄTTE ES WISSEN MÜSSEN. In all den Jahren hat es nie jemand laut gesagt. Aber ich konnte die unausgesprochene Frage in den Augen der anderen lesen. Wieso habe ich es nicht gewusst? Vierunddreißig Jahre später stelle ich mir immer noch diese Frage.
    Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich in meine Kindheitserinnerungen zurücksinke. Bevor alles anders wurde. Zurück in die Zeit, als es
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