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Fromme Wünsche

Fromme Wünsche

Titel: Fromme Wünsche
Autoren: Sara Paretzky
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Sara Paretsky
     
    Fromme Wünsche
     
    Kriminalroman
     
    Aus dem Amerikanischen von Katja Münch
     
     
    1 Alte
Wunden
     
    Mein Magen zog sich zusammen, als ich die Wagentür
abschloß. Vor zehn Jahren war ich zuletzt in dem Haus in Melrose Park zu
Besuch gewesen, doch ich hatte das Gefühl, es sei erst gestern gewesen. Auf dem
schmalen gepflasterten Weg, der zum Seiteneingang führte, beschlich mich das
gleiche Unbehagen, das ich schon als Kind empfunden hatte, und das Herz schlug
mir bis zum Hals.
    Der Januarwind wirbelte dürre Blätter um meine Füße.
In diesem Winter war nur wenig Schnee gefallen, aber die Luft war schneidend
kalt. Ich drückte auf den Klingelknopf, vergrub die Hände tief in den Taschen
meines marineblauen Dufflecoats und versuchte mir einzureden, daß ich ja gar
nicht nervös sei. Schließlich hatten sie mich angerufen, mich um Hilfe
gebeten. Es nützte nichts. Als ich ihre Bitte erfüllte, hatte ich bereits die
erste Schlacht verloren.
    Ich stampfte auf den Boden, um meine in den leichten
Slippers steifgefrorenen Zehen wieder beweglich zu machen. Endlich summte der
Türöffner. Die blaugestrichene Tür führte in einen düsteren Vorraum. Hinter dem
Fliegengitter erkannte ich meinen Vetter Albert. Er war in den letzten Jahren
ziemlich dick geworden. Das Gitter und der dunkle Hintergrund sorgten jedoch
dafür, daß man seinen Schmerbauch nicht so genau sah.
    „Komm rein, Victoria. Mutter wartet schon.“
    Ich verzichtete absichtlich auf eine Entschuldigung
wegen meiner Verspätung und machte eine nichtssagende Bemerkung über das
Wetter. Mit einiger Schadenfreude stellte ich fest, daß Albert schon fast eine
Vollglatze hatte. Er nahm mir unbeholfen den Mantel ab und legte ihn über das
Geländer der schmalen Holztreppe.
    Eine tiefe Stimme fragte barsch: „Albert, ist es
Victoria?“
    „Ja, Mama“, brummte er.
    Licht bekam die Diele nur durch ein winziges rundes
Fenster gegenüber der Treppe, so daß sich das Tapetenmuster im Halbdunkel
nicht erkennen ließ. Doch als ich Albert durch den Flur folgte, sah ich: es war
noch das gleiche wie früher - weiße Kreise auf grauem Untergrund, häßlich und
kalt. Als Kind hatte ich immer das Gefühl, von diesem Muster gehe etwas Böses
aus. Auch diesmal, Alberts schwabbelnde Oberschenkel vor Augen, überfiel mich
wieder diese Kälte, und ich fröstelte. Als ich noch klein war, hatte ich meine
Mutter Gabriella oft genug angefleht, mich nicht mehr in dieses Haus mitzunehmen.
Was sollten wir auch dort? Rosa haßte sie und mich, und nach der langen
Heimfahrt mit der Hochbahn weinte meine Mutter jedesmal. Doch auf meine Bitten
hatte sie stets nur verkrampft gelächelt und wiederholt: „Es ist meine
Pflicht, cara. Ich muß sie manchmal besuchen.“
    Albert führte mich ins Wohnzimmer. Die Polstersessel
waren mir so vertraut wie meine eigenen vier Wände. In meinen Alpträumen sah
ich mich gefangen in diesem Raum mit den klobigen Möbeln, den eisblauen
Vorhängen, Onkel Carls trübseligem Bild über dem imitierten Kamin, und
mittendrin Rosa mit ihrer Habichtsnase, dürr, stirnrunzelnd und stocksteif auf
einem dünnbeinigen Stuhl thronend.
    Ihr schwarzes Haar war nun stahlgrau, doch hatte sie
noch immer den strengen, mißbilligenden Blick. Einige tiefe Atemzüge sollten
mir helfen, den Aufruhr in meinem Inneren zu bezähmen. Sie hat dich um den Besuch gebeten, rief ich mir ins
Gedächtnis.
    Sie begrüßte mich im Sitzen und verzog dabei keine
Miene. Soweit ich mich entsinnen konnte, hatte ich sie noch niemals lächeln
sehen. „Nett, daß du gekommen bist, Victoria.“ Ihr Ton verriet, daß es besser
gewesen wäre, pünktlich zu erscheinen. „Wenn man alt wird, fährt man nicht
mehr so gern herum. Und in den letzten Tagen bin ich wirklich alt geworden.“
    „Ach“, sagte ich unbestimmt. Ich setzte mich auf
einen Stuhl, der etwas bequemer aussah als die übrigen. Rosa war ungefähr
fünfundsiebzig. Bei der Autopsie stellte man eines Tages wahrscheinlich fest,
daß ihre Knochen aus Gußeisen bestanden. Mir kam sie noch nicht alt vor,
zumindest hatte sie noch keinen Rost angesetzt.
    „Albert, gieße Victoria Kaffee ein.“
    Rosas einzige Tugend war ihre Kochkunst. Den starken
italienischen Kaffee nahm ich dankbar an, doch das Tablett mit den Leckereien,
das Albert mir reichte, übersah ich - aus Angst, meinen schwarzen Wollrock mit
Schlagsahne zu bekleckern und mir nicht nur verkrampft, sondern auch wie ein
Trampel vorzukommen.
    Albert saß mit einem
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