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Fromme Wünsche

Fromme Wünsche

Titel: Fromme Wünsche
Autoren: Sara Paretzky
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bestätigen, beantragte er, mir die Lizenz zu entziehen,
aber mein Anwalt hatte keine Schwierigkeiten, das zu verhindern. Am meisten
setzte Mallory ein Brief von Dr. Paciorek zu; darin hatte er sich sein
Schuldgefühl und seinen Schmerz von der Seele geschrieben. Seine Tochter war
tot, seine Frau hatte einen schweren Schlaganfall erlitten. Er schloß seine
Praxis an der North Shore und flog nach Panama, um seine frühere Tätigkeit in
den Armenvierteln wiederaufzunehmen. Den Brief an Bobby Mallory hatte er in
Ciudad Isabella geschrieben. Murray erzählte mir mehr darüber, als ich
eigentlich wissen wollte.
    Als alles erledigt war, hatte ich nichts weiter zu
tun als zu schlafen, zu essen und meine Wohnung einzurichten. Ich wollte nicht
ins Grübeln geraten - weder über Rosa noch über meine Mutter. Roger half mir,
die trüben Gedanken zu verscheuchen - zumindest während des Tages. Gegen die
Alpträume war auch er machtlos.
    Nachdem ich ihn am Flughafen abgesetzt hatte, fühlte
ich mich ausgebrannt und einsam. Ich hatte Angst. Roger hatte die bösen Geister
von mir ferngehalten, doch nun mußte ich's allein mit ihnen aufnehmen.
Vielleicht sollte ich Onkel Stefans Angebot annehmen und mit ihm eine Woche auf
die Bahamas fliegen?
    Ich saß gedankenverloren in meinem Auto und spielte
mit den Schlüsseln, die vom Zündschloß herabbaumelten. Auf der anderen
Straßenseite öffnete sich die Tür eines dunkelgrünen Datsun. Die eingedrückte
Stoßstange und den schäbigen Lack kannte ich doch... Ja, es war Lotty. Ich
stieg aus und schloß den Wagen ab.
    „Ich möchte gern mit dir reden, Vic.“
    Ich nickte stumm und führte sie ins Haus. Auch sie
sprach kein Wort, bis wir im Wohnzimmer Platz genommen hatten, in dem sich
bereits wieder ein gemütliches Chaos auszubreiten begann.
    „Stefan hat mir erzählt, daß Roger heute heimfliegt.
Ich wollte erst warten, bis er weg ist... Ich habe dir viel zu sagen. Ich muß
auch viel zurücknehmen. Kannst du - wirst du -“ In ihrem klugen Gesicht zuckte
es, aber sie faßte sich. „Du bist meine Ersatztochter, Victoria. Und die beste
Freundin, die sich eine Frau nur wünschen kann. Bitte, verzeih mir, daß ich
dich beschimpft habe. Ich möchte, daß alles wieder so wird - nein, so wie
früher wird es nicht mehr, das ginge nicht. Unsere Freundschaft soll einfach
weiterbestehen. Ich will mich nicht rechtfertigen... Hör zu: Ich habe dir,
glaube ich, schon einmal erzählt, daß von unserer großen Familie nur mein
Bruder Hugo und ich übriggeblieben waren. Und wie wir dann Onkel Stefan
entdeckten. Stefan ist ein liebenswerter Schlawiner (das hatte sie auf deutsch
gesagt, doch ich verstand, was sie meinte), aber selbst wenn er so gräßlich
wäre wie deine Tante, würde ich mich verantwortlich fühlen. Hugo, er und ich -
das ist alles, was von früher noch übrig ist. Als er niedergestochen wurde,
habe ich rot gesehen. Ich wollte nicht zugeben, daß er das Risiko bewußt
einging und daß es sein gutes Recht war. Statt dessen habe ich dir die Schuld
in die Schuhe geschoben. Das war mein großer Fehler.“
    Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich mußte ein
paarmal ansetzen, bis ich sprechen konnte. „Ach, Lotty - ich war so einsam
diesen Winter. Weißt du überhaupt, was ich durchgemacht habe? Agnes mußte
sterben, weil ich sie mit in die Ajax-Affäre hineingezogen habe. Ihre Mutter
bekam einen Schlaganfall, meine Tante ist übergeschnappt. Und alles nur, weil
ich so verbohrt und eigensinnig gewesen bin. Ich wollte mit aller Gewalt etwas
schaffen, was nicht einmal dem FBI und der Finanzaufsichtsbehörde gelungen
war.“
    Lotty zuckte zusammen. „Vic, bitte quäl mich nicht
mit den Ausdrücken, die ich dir damals in meiner Wut an den Kopf geworfen habe.
Ich mache mir schon genug Vorwürfe. Stefan hat mir erzählt, was sich im Kloster
abgespielt hat. Was zwischen Rosa und Gabriella war. Ich wußte, wie nötig du
mich gebraucht hättest, aber ich konnte nicht über meinen Schatten springen.“
    „Kennst du eigentlich meinen zweiten Vornamen,
Lotty? Kennst du die Geschichte von Iphigenie? Weißt du, daß Agamemnon sie
opfern wollte, um günstigen Wind für seine Fahrt nach Troja zu erflehen? Seit
dem schrecklichen Tag im Kloster träume ich davon. Aber in meinem Traum ist es
Gabriella, die mir den Dolch an die Kehle setzt und um mich weint. Oh, Lotty!
Warum hat sie's mir nicht erzählt? Warum hat sie mir dieses fürchterliche
Versprechen abgenommen? Warum?“
    Plötzlich wurde ich von meinem
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