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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke
Autoren: Karin Fossum
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dem Sturm über das Haus. Wir brachen einfach zusammen und schliefen ein, wo wir standen und lagen. Wir waren erschöpft und verzweifelt und nirgends war Hilfe zu finden. Uns wurde offen gesagt, daß sich das niemals auswachsen würde. Er würde immer Konzentrationsschwierigkeiten haben und zeitlebens hyperaktiv bleiben, die ganze Familie würde sich noch jahrelang darauf einrichten müssen. Jahrelang. Können Sie sich das vorstellen?«
    »Und an diesem Tag sind Sie mit ihm aneinandergeraten?«
    Johnas lachte wie ein Wahnsinniger. »Wir sind dauernd aneinandergeraten. Es wurde zu einer Neurose für die ganze Familie. Wir haben sicher dazu beigetragen, ihn kaputtzumachen, wir konnten einfach nicht mit ihm umgehen. Wir haben geschrien und geschimpft, sein ganzes Leben bestand nur aus bösen Worten und Vorwürfen.«
    »Erzählen Sie, was dann passiert ist.«
    »Magne schaute kurz in die Küche und rief tschüs. Er ging mit seiner Schultasche zum Bus. Draußen war es dunkel. Ich machte noch ein Brot, diesmal eins mit Wurst. Ich schnitt es sogar in kleine Rechtecke, obwohl er die Kruste gut essen konnte. Die ganze Zeit schlug er seinen Becher auf das Wachstuch, er schrie und brüllte, weder vor Lachen noch vor Wut, es war einfach ein unendlicher Strom von Geräuschen. Dann entdeckte er die Waffeln, die noch vom Vortag auf der Anrichte standen. Sofort wollte er welche haben, und obwohl ich wußte, daß er gewinnen würde, sagte ich nein. Aber dieses Wort war für ihn wie ein rotes Tuch, er gab nicht nach, er schlug mit dem Becher und wackelte auf seinem Stuhl hin und her, der schon fast umzukippen drohte. Ich kehrte ihm den Rücken zu und zitterte. Schließlich schnappte ich mir den Teller mit den Waffeln, entfernte die Plastikfolie und nahm mir eine Waffel. Ich warf das Wurstbrot in den Mülleimer und stellte den Waffelteller vor ihn hin. Riß zwei Herzen ab. Ich wußte, daß er die nicht in Ruhe essen würde, mir stand noch mehr bevor, ich kannte ihn schließlich. Eskil wollte Marmelade zur Waffel. Ich beschmierte in aller Eile die beiden Herzen mit Himbeermarmelade, mit zitternden Händen. Und in diesem Moment lächelte er. Ich erinnere mich noch gut daran, an sein allerletztes Lächeln. Er war zufrieden mit sich. Ich konnte das nicht mehr ertragen, ich war am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Er hob den Teller hoch und schlug damit auf den Tisch. Er wollte sie doch nicht, die Waffeln waren ihm egal, ihm ging es nur darum, seinen Willen durchzusetzen. Die Waffeln rutschten vom Teller und fielen auf den Boden, deshalb mußte ich einen Waschlappen holen. Ich konnte keinen finden, also hob ich die Waffeln auf und faltete sie zusammen. Er sah mir interessiert zu. Sein kleines Gesicht zeigte keinerlei Angst vor dem, was jetzt kommen würde. Ich kochte innerlich. Ich mußte einfach Dampf ablassen, ich weiß nicht, wie das passierte, aber plötzlich beugte ich mich über den Tisch und stopfte ihm die Waffeln in den Mund, so tief hinein wie nur möglich. Ich kann mich noch an sein verwundertes Gesicht und die Tränen in seinen Augen erinnern.«
    »So!« schrie ich wütend. »Jetzt friß deine verdammten Waffeln!«
    Johnas krümmte sich. »Ich wollte das nicht!«
    Die Zigarette lag qualmend im Aschenbecher. Sejer schluckte und ließ den Blick zum Fenster wandern, fand jedoch nichts, was ihn von diesem Bild befreien konnte: dem Bild des kleinen Jungen mit der Waffel im Mund und den großen entsetzten Augen. Er sah Johnas an. »Wir müssen unsere Kinder so nehmen, wie wir sie bekommen, nicht wahr?«
    »Das haben alle gesagt. Alle, die es nicht besser wußten. Niemand wußte es besser. Und nun werde ich wohl wegen Mißhandlung mit Todesfolge angeklagt werden. Aber damit kommen Sie zu spät. Ich habe mich längst selbst angeklagt und verurteilt, daran können Sie nichts mehr ändern.«
    Sejer sah ihn an. »Und wie genau lautet diese Anklage?«
    »Eskils Tod war ganz allein meine Schuld. Ich war für ihn verantwortlich. Nichts läßt sich schönreden oder entschuldigen. Ich wollte es nicht. Es war ein Unglück, aber es ist passiert.«
    »Es muß hart für Sie gewesen sein«, sagte Sejer leise. »Sie konnten mit Ihrer Verzweiflung nirgendwohin. Und gleichzeitig glauben Sie, schon gestraft genug zu sein. Ist es nicht so?«
    Johnas schwieg. Sein Blick flackerte.
    »Sie haben zuerst Ihren kleinen Sohn verloren, und dann hat Ihre Frau Sie verlassen. Sie blieben allein zurück und hatten niemanden mehr.«
    Jetzt brach Johnas in Tränen
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