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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Autoren: Angelika Meier
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1.
    Patient schreit unablässig. Dennoch muss ich ihn für eine Weile sich selbst überlassen und gebe ihm bloß die Flasche mit dem Opium-Rhabarbersaft, in der Hoffnung, ihn so für ein paar Minuten ruhigzustellen. Opium und Rhabarber, das ist alles, was ich momentan für Sie tun kann. Er saugt gierig am Gumminuckel der Flasche, während er mich vorwurfsvoll durch die Fenstergläser seiner Brille anstarrt, und mir fällt auf, dass ein weiteres Regiment seiner Haare die gestrige Spezialbehandlung für einen Rückzug hinter die feindliche Stirnlinie genutzt hat. Ich nicke dem Patienten verständnisvoll oder eigentlich eher um Verständnis bittend zu – ich weiß, dass ich als sein Arzt und Referent die Pflicht habe, mich fortwährend um ihn und seine Schreierei zu kümmern. Aber schließlich ist er nur ein Patient von vielen, und vor allem ist es ebenso meine Pflicht, als Referent in eigener Sache den Bericht über mich selbst vorschriftsmäßig bis Ende des Jahres der Klinikleitung einzureichen. Ich drehe dem Patienten also den Rücken zu, und erwartungsgemäß beginnt er wieder zu schreien. Er beginnt zu schreien und ich beginne zu schreiben.
    Kaum dass ich der Tastatur auch nur die drei Buchstaben des Wortes Ich übergeben kann, muss ich bereits wieder unterbrechen. Schreierei des Patienten nimmt unmenschlichen oder eher übermenschlichen Ausdruck an. Seufzend erhebe ich mich von meinem Schreibtisch und gehe zurück an sein Bett. Seine Flasche ist leer, weshalb er sie wütend gegen die Wand geworfen hat, was ihn sichtlich noch wütender gemacht hat, weil die Plastikflasche im Gegensatz zu ihm einfach nicht kaputtgehen will, und während ich mich, abermals und diesmal bösartigerweise wie eine der Schwestern demonstrativ lang-, länger-, allerlängstmütig seufzend, nach der Flasche bücke, achte ich reflexartig darauf, ihm weder Rücken noch Hinterkopf für einen seiner Faustschläge oder Fußtritte anzubieten. Ich gehe pfeifend in den Flur, um die Flasche an einem der Zapfhähne aufzufüllen, er beobachtet mich durch die Glaswand, wird dabei ruhiger, seine Schreierei mündet in einen hellen, wortlosen Singsang, der schließlich ausrollt in der leisen Brandung seines üblichen verwunderten Gemurmels der Worte Pamplona! Pamplona!
    Diesmal endlich nimmt er die Flasche mit einem höflichen Nicken entgegen, wackelt leicht mit dem Kopf, als er sie wie eine Jazzklarinette vor seinem Gesicht aufragend an die Lippen setzt und das Mundstück des Gumminuckels mit den Zähnen prüft, dann schließt er genüsslich trinkend die Augen. Ich setze mich wieder an den kleinen Schreibtisch in der Ecke seines Zimmers, und solange er trinkt, beobachte ich ihn über den Rand meines Bildschirms hinweg, mein Kinn gestützt auf die beiden Daumen der über den aufgestellten Ellbogen gefalteten Hände, die wie in einem verzweifelten oder wohl eher frömmlerischen Gebet Mund und Nase bedecken. Die Augen darüber werden langsam glasig, während sie die wiegende Bewegung des Patienten taxieren.
    Jetzt müsste ich schreiben, wenigstens noch schnell einen ersten Satz, denn er wird gleich zu sich kommen und zu sprechen beginnen. Ich kann zusehen, wie sich die idiotische Entstellung seiner Züge wieder einmal mit erstaunlicher Schnelligkeit auflöst, ein Naturschauspiel wie in einer meteorologischen Animation, der Geist kehrt schrittweise in sein Gesicht zurück, und so schiebe ich meinen Eigenbericht wieder auf.
    »Sagen Sie, Herr Doktor, habe ich Ihnen eigentlich schon einmal gesagt, dass Sie eine alte ausgelaufene Rotweinflasche sind?«
    »Sie haben es das ein oder andere Mal erwähnt, Herr Professor.«
    »Hm ja, mir war auch so. Nun ja, man kann es nicht oft genug sagen. Wo waren wir gestern stehengeblieben?«
    »Sie haben versucht, mir Ihre Vorstellung von der Astrologie als eines auf die Zukunft projizierten Namensfetischismus darzulegen.«
    »Ah ja, richtig. Schreiben Sie mit?«
    »Ja natürlich«, ich wechsele schnell die Datei. »Fahren Sie fort. Ich bin ganz Ohr.«
    »Ach, Sie verstehen es ohnehin nicht, ihr Ärzte versteht nie etwas von den wesentlichen Dingen des Lebens!«
    »Mag sein, aber seien Sie unbesorgt, zum bloßen Aufschreiben wird mein Verständnis schon ausreichen.«
    »Na gut, dann schreiben Sie. Böser Doktor, verschlagenes Aas, elender Hurensohn, Satanssonde! Liebes Buch, liebes gutes Papier!«
    »Soll ich das …?«
    »Nein, natürlich nicht, ich denke noch nach. Früher schien es mir so, als ob die Ambivalenz der
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