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Cabal - Clive Barker.doc

Cabal - Clive Barker.doc

Titel: Cabal - Clive Barker.doc
Autoren: Admin
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1. Teil
LOCO

    »Ich wurde lebend geboren. Ist das nicht Strafe genug?«

    MARY HENDRICKSEN
    während ihrer Verhandlung
    wegen Muttermordes

    9

    I
    Die Wahrheit
    Daß von allen hastigen und mitternächtlichen Versprechen, die im Namen der Liebe gemacht wurden, keines gewißlicher gebrochen wurde als: Ich werde dich nie verlassen, wußte Boone jetzt.
    Was einem die Zeit nicht unter der Nase wegstahl, stahlen die Umstände. Es war vergebens, etwas anderes zu hoffen; vergebens zu träumen, daß einem die Welt irgend etwas Gutes tun wollte. Alles Wertvolle, alles, woran man sich seiner geistigen Gesundheit zuliebe klammerte, verdarb oder wurde einem auf lange Sicht entrissen, und der Abgrund klaffte unter einem, wie er jetzt für Boone klaffte, und plötzlich war man – ohne auch nur den Hauch einer Erklärung – einfach verschwunden. Zum Teufel gegangen oder Schlimmeres, trotz Liebesbeteue-rungen und allem.
    Seine Einstellung war nicht immer so pessimistisch gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben – das war noch gar nicht so lange her –, da hatte er gespürt, wie sich die Last seines Zorns gehoben hatte. Weniger psychotische Episo-den, weniger Tage, an denen ihm danach zumute gewesen war, sich die Pulsadern aufzuschlitzen, anstatt die Stunden bis zur nächsten Verabreichung seiner Medizin auszuhalten. Es schien eine Chance bestanden zu haben, glücklich zu werden.
    Diese Aussicht hatte ihm die Beteuerung seiner Liebe entlockt, dieses: »Ich werde dich nie verlassen«, das er in Loris Ohr geflüstert hatte, als sie in dem schmalen Bett 10

    lagen, von demer sich nie hätte träumen lassen, daß einmal zwei darin liegen würden. Die Worte waren nicht in den Wehen heftigster Leidenschaft hervorgebracht worden. Ihr Liebesleben war, wie so vieles zwischen ihnen, von Problemen überfrachtet. Aber wo ihn andere Frauen aufgegeben und sein Versagen nie verziehen hatten, war sie beharrlich geblieben: hatte ihm gesagt, sie hätten genügend Zeit, es in Ordnung zu bringen, alle Zeit der Welt. Ich bin bei dir, solange du es willst, schien ihre Geduld ihm gesagt zu haben.
    Niemand hatte je eine solche Verpflichtung angeboten; und er wollte eine als Gegenleistung bieten. Diese Worte:
    »Ich werde dich nie verlassen.« Das war sie.
    Die Erinnerung daran, und an ihre Haut, die in der Düsternis seines Zimmers fast leuchtend gewesen war, und an das Geräusch ihres Atems, als sie endlich neben ihm einschlief – das alles hatte immer noch die Kraft, sein Herz zu packen und zu drücken, bis es schmerzte.
    Er sehnte sich danach, von den Erinnerungen und den Worten frei zu sein, da ihm die Umstände jetzt jegliche Hoffnung auf ihre Erfüllung genommen hatten. Aber sie würden nicht vergessen werden. Sie verweilten, um ihn mit seiner Schwäche zu quälen. Sein schwacher Trost war, daß sie – da sie wußte, was sie über ihn wissen mußte –
    daran arbeiten würde, die Erinnerung auszulöschen; und daß sie mit der Zeit Erfolg haben würde. Er hoffte nur, sie würde die Unwissenheit bezüglich seiner selbst verstehen, als er das Versprechen ausgesprochen hatte. Er hätte diesen Schmerz niemals riskiert, hätte er bezweifelt, daß die Gesundheit endlich in seiner Reichweite war.
    Träum weiter!
    Decker hatte diesen Selbsttäuschungen ein abruptes Ende bereitet, als er an jenem Tag die Praxistür abge-sperrt, die Jalousien vor den Frühlingssonnenschein von 11

    Alberta ge zogen und mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war, gesagt hatte:
    »Boone. Ich glaube, wir sind in schrecklichen Schwie -
    rigkeiten, Sie und ich.«
    Boone sah, daß er zitterte, eine Tatsache, die sich bei einem so gewaltigen Körper nicht leicht verbergen ließ.
    Decker hatte die Physis eines Mannes, der die Angst des Tages in einer Sporthalle ausschwitzte. Nicht einmal seine stets anthrazitfarbenen Maßanzüge konnten seine Masse zähmen. Das hatte Boone am Anfang ihrer gemeinsamen Arbeit nervös gemacht; die körperliche und geistige Auto-rität des Doktors hatte ihn eingeschüchtert. Jetzt fürchtete er das Scheitern dieser Kraft. Decker war ein Fels; er war Vernunft; er war Ruhe. Diese Angst lief allem zuwider, was er über den Mann wußte.
    »Was ist los?« fragte Boone.
    »Setzen Sie sich, ja? Setzen Sie sich, dann sage ich es Ihnen.«
    Boone tat, wie ihm geheißen worden war. In seiner Praxis war Decker der Herr. Der Doktor lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und atmete durch die Nase, sein Mund war zu einer abwärts gekrümmten Kurve
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