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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume
Autoren: Thomas Sautner
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1.
    J akob trug ein wackeliges Blechgestell auf dem Kopf und ging rückwärts. Ein breites Metallband umfasste nicht nur seine Stirn, sondern auch versehentlich eingezwängte Strähnen seines struppigen, flachsblonden Haars. Die Haarspitzen kitzelten Jakob im Gesicht, besonders um die Nase und an der Oberlippe. Am Metallband hatte er ein ausladendes Gestänge befestigt und daran den runden Rasierspiegel seines Vaters, des Seifritz-Bauern. Jakob selbst hatte sich die spektakuläre Vorrichtung ausgedacht. So konnte er im Spiegelbild sehen, wohin sein Weg ihn führte. Schließlich wollte er sich das Verkehrtgehen nicht unnötig erschweren.
    An diesem frischen Augustmorgen des Jahres 1957 waren zwei weitere Einwohner von Legg vor Morgengrauen aus den Betten gekrochen. Wie Jakob hatten sie den unteren Teil des im Mondlicht liegenden Dorfes hinter sich gelassen, waren an verblühten Erdäpfelackern entlanggestapft und hatten schließlich den Eigenwald an seinem spitz zulaufenden Ende durchquert, um auf die große Bachwiese zu gelangen. Jetzt hockten sie, der Bürgermeister und der Wirt, keine hundert Meter von Jakob entfernt auf dem Hochstand, die Flinten bereit, und warteten darauf, dass der dichte Bodennebel die taunasse Wiese freigeben würde.
    Jakob tat indes Schritt für Schritt, die Beine weit höher hebend als es in der wadenhohen, tieffeuchten Wiese nötig gewesen wäre. Bloßfüßig, die grobe Stoffhose bis über die Knie gekrempelt, stelzte er ins kalte, weiche Nass der Wiese. Weit ausholende, balancierende Ruderbewegungen der Arme begleiteten seine Tritte, und immer wieder schmatzte und schlappte es, wenn Wasser, Grashalme und Kräuter ihren engen Weg durch seine Zehen fanden. Jakob versuchte, jede Hektik aus seinen Bewegungen zu nehmen. Weich und fließend wollte er im Rückwärtsgehen dahingleiten, wollte erleben, wie es ist, vorwärts zu kommen beim Zurückgehen, und ob Rückschritte es womöglich erlaubten, der Zeit zu entgehen. Dumm nur, dass er immer wieder nach oben greifen musste, um seine schwankende Vorrichtung zu justieren.
    »Das gibt’s nicht!« Der Bürgermeister stieß den Wirt mit dem Ellenbogen an. »So ein Trottel«, zischte er, wies mit dem Doppelkinn die Richtung an und hob den Fernstecher wieder vor die Augen.
    »Ein Wahnsinn«, sagte der Wirt, als er Jakob durch den Nebel erkannte. »Was hat der Idiot da auf seinem verfluchten Schädel?«
    Beide konzentrierten ihren Blick.
    »Eine Krone«, befand der Bürgermeister, wandte sich dem Wirten zu, und stellte halb verblüfft, halb amüsiert fest: »Eine Krone. Der Narr trägt jetzt eine Krone.«
    Pralles Grinsen legte sich über das Gesicht des Wirts, und seine schmalen Augen verrieten, dass ein Gedanke zustande gekommen war. »Ob die Krone wohl gut sitzt?«
    Der Bürgermeister zögerte, aber nicht lange, und dann legten die beiden ihre Flinten an.
    In diesem Moment bemerkte Jakob einen Rehbock im Spiegel, äsend und wunderschön. Gleich darauf fielen in kurzer Folge zwei Schüsse. Der Rehbock erschrak, sprengte davon Richtung Wald. Jakob fiel zu Boden, lag gestreckt im nassen Gras.
    Die Vorrichtung war ihm vom Kopf gefallen. Wasser durchdrang seine Hose und sein dunkles, grob kariertes Holz­hackerhemd. Durch seinen Kopf rasten Blitze und sein Scheitel brannte heiß wie frisch angefachte Glut. Jakob wollte sich zwingen, die Augen zu öffnen, um nachzusehen, ob er noch lebte. Als er es geschafft hatte, lag ein dicker Schleier über seinen Augen. Über ihm drehte sich der Himmel, wirbelte und kreiste. Jakob hatte Angst, furchtbare Angst um den Toilettenspiegel des Seifritz-Bauern. Totprügeln würde ihn der Vater, sollte der Spiegel nicht rechtzeitig und unversehrt wieder an seinem Platz sein. Jakob nahm all seine Kraft zusammen. Mühsam drehte er sich aus der Rückenlage zur Seite, stützte sich auf den Ellenbogen und tastete nach der Vorrichtung. Seine Hände strichen über schmieriges Gras. Seine Augen waren wie betrunken. Er stieß an das Metallband, tastete sich hastig am Gestänge entlang und wischte über die feuchtglatte Oberfläche des Spiegels. Komisch, blutverschmiert, dachte er. Aber gottlob, der Spiegel war nicht zersprungen. »Danke«, flüsterte Jakob. Und weil seine Kräfte aufgebraucht waren, kippte er nach hinten.
    Es war ein Traum, in den er fiel. Eine mächtige Kraft zog Jakob nach unten, in sich selbst hinein, und ließ ihn in rascher Folge Bilder seines Lebens erkennen. Es begann mit dem jüngst Erlebten: Er sah sich von
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