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226 - Das Schädeldorf

226 - Das Schädeldorf

Titel: 226 - Das Schädeldorf
Autoren: Mia Zorn
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»Namen und Wohnorte!«, forderte eine farblose Stimme. Sie gehörte zu einem Uniformierten, der im Hintergrund saß. Er hielt ein geöffnetes Notizbuch auf seinem Schoß und spielte mit einem goldenen Kugelschreiber.
    »Kieng Mok, Phnom Penh.«
    Die Hand mit dem Kugelschreiber zögerte einen Augenblick. Dann setzte sie den Stift auf die Buchseite und schrieb. »Jetzt die Namen und Wohnorte der anderen Verräter!«
    Kieng Mok presste seine blutigen Lippen zusammen. Er wusste immer noch nicht, warum er eigentlich hier war, und schon gar nicht, von welchen Verrätern sie sprachen. Der Mann der sich die ganze Zeit irgendwo in seinem Rücken aufgehalten hatte, trat jetzt an seine Seite. »Nun sei doch vernünftig! Oder willst du, dass sie deine Frau und deine Kinder hierher holen?« Seine Stimme klang warm und samtig.
    »Nein!«, keuchte Kieng, »Nein!« Fieberhaft suchte er nach Namen von Verstorbenen. »Ko Yen aus Battambang!«, stammelte er. »Li Ging aus Battambang!« Einer nach dem anderen fiel ihm ein. Und der goldene Kugelschreiber schabte über die Seite des Buches. Als Kieng alle ihm bekannten Verstorbenen aufgezählt hatte, wollten seine Peiniger noch mehr hören. Kieng konnte nicht mehr. Nicht mehr nachdenken. Nicht mehr sprechen. Ihm war schlecht vor Schmerzen und er sehnte sich die nächste Ohnmacht herbei.
    »Holt die Frau!«, befahl der Uniformierte im Hintergrund.
    »Nein!«, keuchte Kieng Mok. »Tak Dien aus Phnom Penh! Kel Sho aus Phnom Penh! Wen Hu aus Phnom Penh!« Die Namen fielen aus seinem Mund wie die Perlen eines gebrochenen Kettenbandes.
    Und der goldene Kugelschreiber sammelte sie auf den Seiten des gierigen Buches: die Bäckersfrau, den Nachbarn, den Lehrer, den Zeitungsverkäufer, den Gärtner aus dem Park, die Frau, die vor der Fabrik Fischpaste verkaufte und den Vorsteher vom Bahnhof. Mindestens vierzig Namen nannte Kieng Mok, bis er endlich verstummte. Er war leer. Sein Kopf, sein Mund, sein Herz: leer.
    ***
    Mai 1975, Krachéh, Kambodscha
    Wie eine Perle schimmerte Krachéh am Gestade des gewaltigen Flusses. Die Umrisse der Häuser und Hütten entlang des Ufers flimmerten im Licht der Mittagssonne, und die unzähligen Boote der fahrenden Händler taumelten über das Wasser des Mekongs. Trotz der Hitze wimmelte der Hafen von Menschen.
    Rufend und lachend bewegten sie sich über den Wochenmarkt. Lautstark wurden hier Fische, Früchte, Gewürze, Körbe, Stoffe, Matten und vieles andere mehr feilgeboten. Einige junge Burschen balancierten an Bambusstäben Krüge mit Bier und Zuckerrohrsaft. Gesprächige Frauen saßen vor dampfenden Töpfen und schöpften Reisnudelsuppe in kleine Schalen. Obwohl ein gewöhnlicher Markttag, lag Feiertagsstimmung in der Luft. Die Stimmen der Menschen klangen wie ein fröhlicher Singsang, und es gab kein Gesicht, in dem sich nicht ein Lächeln fand.
    Ja, sie waren glücklich, die Bewohner von Krachéh. Und sie hatten allen Grund dazu: Der Bürgerkrieg, der das Land fünf Jahre lang mit Gewalt und Grauen überzogen hatte, war endlich vorbei. Die Menschen konnten sich wieder frei bewegen. Sie konnten ihre Kinder wieder unbeaufsichtigt spielen lassen, ohne Angst vor Milizen der Regierungssoldaten oder den Rebellen. Ohne ständig panische Blicke nach oben zu richten, ob die Bomber der Amerikaner wieder den Himmel kreuzten.
    Die neuen Machthaber in Phnom Penh hatten die Ausländer und deren Marionette Lon Nol vertrieben. Lon Nol, diesen elenden Putschisten, der vor fünf Jahren Kambodschas hochgeschätzten Prinzen Sihanouk gestürzt hatte. Möge Lon Nol seine gerechte Strafe erhalten, beteten viele. Aber die meisten Menschen in Krachéh waren einfach nur froh, dass sie endlich nachts wieder ruhig schlafen konnten. Und dankbar waren sie.
    Sie dankten Buddha, sie dankten ihren Ahnen, und am meisten dankten sie den neuen Herren von Kambodscha, von denen sie nichts weiter wussten, als dass sie sich Angkar nannten. Keine Namen in den Nachrichten, keine Bilder in der Zeitung. Nur die tägliche Rundfunkstimme, die etwas über die neuen Führer verriet: Sie waren Khmer. Also eigene Leute. Keine Fremde. Das war die Hauptsache. Alles würde gut werden ohne die Ausländer. Da war sich jeder sicher.
    Inzwischen trafen auch wieder Kuriere ein mit Nachrichten von Verwandten und Freunden aus den abgelegenen Dörfern. In der Freude über die Lebenszeichen ihrer Lieben wurden so viele Briefe geschrieben wie selten zuvor.
    Prallvoll waren die Postsäcke, die sich zum Abtransport am
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