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Flammenopfer

Flammenopfer

Titel: Flammenopfer
Autoren: Joerg Liemann
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kämpfen müssen. Berlin war eine Fehlkonstruktion, spätestens mit der Industrialisierung. Hinterhöfe für Ratten, Außenklos, kaltes Gemäuer. Wenn Sie sich den Stadtplan ansehen – da war keine Gliederung, die eine ordentliche Versorgung gewährleistet hätte.«
    » Was meinen Sie mit Gliederung? So ein Gittermuster wie in New York?«
    » Gitterraster sind im Prinzip nicht schlecht. Aber das reicht nicht. Zur Zeit der Industrialisierung war halb New York so verlaust wie Zilles Berlin. Es geht um ein Grundprinzip, Herr Sternenberg.« Er zögerte. Offenbar wusste er nicht genau, ob es sich lohnte, dem Polizisten das Geheimnis des Städtebaus zu erklären.
    » Welches Prinzip meinen Sie? Dass die Städte quadratisch oder kreisförmig aussehen?«
    » Wie haben die Menschen ihre ersten Siedlungen gebaut? Sie haben einen Palisadenkreis gezogen und darin ihre Hütten aufgestellt. Im Zentrum ein Versammlungsraum. An den Rändern wurden die Pflanzungen angelegt. Afrikaner integrieren noch heute ihre Hütten direkt in die Stadtmauer – in der Mitte entsteht damit viel Platz zum Leben, Platz für Getreidespeicher und für die Hütten des Häuptlings.« Er formte mit den Händen einen Kreis. » Die Stadtmauern waren über Jahrtausende nicht nur für die Verteidigung wichtig. Sie waren wie die Haut eines Körpers. Ein Körper bewahrt seine Organe in sich. Das Innere war auch bei der Stadt der Ort, von dem die Organisation ausging. Im altchinesischen Kanton beispielsweise, da standen nur Parzellen nebeneinander. Wenn Sie wollen, war es ein frühes New York.«
    Sternenberg schmunzelte.
    Van Tannen war in Fahrt. » Im Gegensatz zu Kanton hatten sie im frühen Peking schon eine wohlgeordnete Unterscheidung der inneren Strukturen: eine äußere Chinesenstadt, eine innere Tatarenstadt, eine Kaiserstadt und eine Verbotene Stadt. Von innen her wurde also organisiert. Anstatt nur rein organisatorische Entscheidungen für das Innere der Stadtmauer zu treffen, also Getreidespeicher oder Feuerstellen oder Brunnen vorzusehen, ist dort in China der nächste Entwicklungsschritt vollzogen worden: die Stadtmauer als Rahmen einer ordnenden und übergeordneten Idee. Eine Idee, mit der der Mensch über sich hinauswächst. – Und jetzt sehen Sie sich die heutigen Städte an! Mumbai, das ehemalige Bombay, überschreitet bald die 22-Millionen-Grenze. Tokio ist jetzt schon bei 30 Millionen. Und was, bitte, ist organisiert in São Paulo oder Los Angeles? Ein Sprawl ist das, angeblich ein Netz. Es ist kein Netz. Es ist, als ob sie die alte Stadt mit ihrer definierenden Mauer umgedreht hätten, das Innere nach außen gekehrt, wie bei einem Stück Wild, das Sie aufbrechen. Die Organe hängen draußen, sie verderben an der Luft. Die Stadt kann sich frei in alle Richtungen ausbreiten, aber es ist die Freiheit von Krebsgeschwüren, die keiner aufhält. Ist es das, was Sie moderne Stadtplanung nennen? Wissen Sie, wie viele Menschen in Mexiko-Stadt einen Wasseranschluss haben? Niemand soll mir erzählen, die heutigen Superstädte seien Orte der optimalen Versorgung und Organisation.«
    » Gut, man kann ja heute solche Idealstädte bauen, auf der grünen Wiese. Ich habe gelesen, dass ein Hamburger Architektenbüro eine Stadt für 300 000 Menschen um einen kreisrunden künstlichen See errichten will. In der Nähe von Shanghai. Das ist doch so was wie Ihre Kupferstiche. Aber was machen Sie mit den alten Städten: Berlin, São Paulo, Los Angeles? Alle abreißen?«
    Der Architekt erwiderte Sternenbergs listig-witzigen Ausdruck nicht. Er starrte mit schwarzen Augen durch ihn hindurch. Dann sagte er: » Wissen Sie, was wir das Verbrechen von Amsterdam nennen?«
    » Nein? Sie meinen, die Architekten?«
    » Amsterdam war eine passabel gebaute Stadt. Halbkreisförmige Grachten, eine ausgezeichnete Lösung für vieles. Und dann, ab 1935 etwa, wurde wild drauflos gebaut. Klötzchenspiele nenne ich das. Man hat eine Idee geopfert.«
    » Ah ja. Aber wie gesagt, Herr van Tannen, man wird dafür nicht das ganze neue Amsterdam abreißen, nicht wahr?«
    » Umsichtige Politiker haben es getan. Die einen lassen ganz neue Städte entstehen: St. Petersburg. Oder Brasilia. Die anderen trauen sich, mutige Architekten wenigstens, das Schlimmste ausmerzen zu lassen. In Barcelona, 1959, Ildefons Cerdà. Oder der Präfekt unter der Regierung Napoleons III., Georges-Eugène Haussmann.«
    » Von dem habe ich schon mal gehört. Er hat diese Boulevards geschaffen, indem er Häuser
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