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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit
Autoren: Hakan Nesser
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    K ein Monat kann sich wie der Januar bis in alle Ewigkeit erstrecken.
    So beginnt es. Spätabends sitzt er vor dem alten Stück. Im Lichtkegel über dem Schreibtisch treten Gestalten hervor. Sie leben und sprechen. Lieben, leiden und sterben unter seiner Feder, und die Welt dort draußen in ihrer eigenen Winterdunkelheit ist weder deutlicher noch beständiger als die ihre, sondern ganz genau gleich. Genau gleich.
    So ist es ja auch gedacht. Das ist die Idee des Spiels. Verzaubert und ganz vertieft beugt er sich über den Tisch – vertieft in Einsicht, den leichten Schmerz ignorierend, der ihm wie eine unklare alte Erinnerung die Lendenwirbel hinunterläuft.
    Er taucht die Feder ins Tintenfass, spürt die Wärme der Lampe auf dem Handrücken. Die Spitze auf dem Papier, wie sie die Worte balanciert, auf der messerscharfen Schneide zwischen Wirklichkeit und Wirklichkeit.
     
    Das ist nicht nur mein düstrer Mantel, Mutter.
Auch nicht der Brauch der Trauer, schwarze Tracht.
     
    Es klingelt. In diesem Moment klingelt das Telefon, und alles wechselt auf ein anderes Gleis, er spürt es unmittelbar, versucht dennoch, sich an das Alte und Gewohnte zu halten. Für ein Weilchen. An das Alte, Sichere und Andersartige.
    Er ignoriert das erste Signal. Hat es bereits verdrängt, als es noch in den Wänden hängt. Es verhallt. So, als hätte es nie Raum beansprucht. Ungerührt fährt er mit seiner Arbeit fort bis zum nächsten Signal. Versucht dann, auch dieses in die Flucht zu treiben, aber vergebens. Unerbittlich drängt es sich auf. Unerbittlich wie eine Vorahnung in der Nacht. Wie der Blick einer Mutter. Es klingelt. Er gibt auf. Hebt die Feder vom Papier und wartet.
    Wartet. Zählt.
    Drei. Nicht das Seufzen und Stöhnen meines beklommenen Atems.
    Vier. Wenn es nach sechs Mal aufhört, dann ist es Birthe. Nicht das Seufzen ... Er hat keine Lust, mit Birthe zu sprechen. Nicht heute, nicht an so einem Tag.
    Sieben. Dann kann es jemand anderer sein.
    Er nimmt die Treppe in drei Sätzen. Spürt einen kurzen Schmerz in der Leiste. In der rechten Leiste, immer rechts. Der Flur liegt im Dunkel: Seit dem frühen Nachmittag hat er dagesessen und geschrieben, er hat nicht die Gelegenheit gehabt, Licht oberhalb der Erde zu machen, aber jetzt schnitzt das Telefon weiße Lichtspäne aus der Dunkelheit, und die Dringlichkeit steht ihm plötzlich klar vor Augen.
    Wie ist das möglich? Wovon nährt sich diese Vorahnung?
    Er weiß es nicht. Kann das mit diesem pochenden Herzen und diesem in die Jahre gekommenen Körper nicht verstehen. Außerdem hat er ein Glas getrunken. Er ergreift den Hörer und antwortet.
    »Maertens.«
    Das ist jetzt seit so vielen Jahren schon sein Name, dass er nicht mehr darüber nachdenkt, dass er früher einmal anders geheißen hat. Aber nun ist nur Schweigen zu hören, und er hat Zeit, sich an sein gesamtes Leben zu erinnern.
    »Maertens«, wiederholt er und lauscht. Hört – oder spürt – den Puls seiner eigenen Schläfe am kühlen Bakelit. Hört – oder spürt – seine schwere Kurzatmigkeit. Sonst nichts.
    Nichts.
    Doch nichts.
     
     
    Ungefähr so. Wenn das Geschehen einen Anfang haben soll, dann beginnt es hier. Genau in diesem unerwarteten Riss. Eines Abends Ende Januar steht er in seiner eigenen Dunkelheit in seinem eigenen Flur und hält den Telefonhörer ans Ohr gedrückt. Im Kellerraum trocknet bereits die Tinte. Die Gestalten verblassen und verstummen. Aus der Küche sickert ein Hauch von kaltem Zigarettenrauch, aber ansonsten machen sich die Welt und die nähere Umgebung nicht besonders bemerkbar. Was möglicherweise zu vernehmen sein sollte, ihre unklaren Signale und Rufe, befindet sich dort drinnen in der Verlängerung der Telefonmuschel. Dort drinnen, dort in der Ferne, an einem anderen Ende. Weit von ihm im Zimmer entfernt oder ganz nah bei ihm.
    Das hält ihn fest. Der Riss wird größer, und das Schweigen im Hörer nagelt ihn wie eine unbezahlte Schuld fest, doch genau in diesem Moment erscheint das nicht besonders bemerkenswert. Ganz und gar nicht bemerkenswert. Erst später, als er endlich aufgelegt hat, da überfällt ihn die Verwunderung.
    Die Verwunderung. Doch während er dasteht und lauscht, vergisst er alles Andere um sich herum. Sein Bewusstsein liegt in anderen Händen. Seine Gedanken und Wahrnehmungen werfen alle Taue von sich und lassen sich entführen. Widerstandslos und sekundenschnell wird Schicht für Schicht vom Schweigen und der Entfernung abgetragen, so dass zum
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