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Evers, Horst

Evers, Horst

Titel: Evers, Horst
Autoren: Fuer Eile habe ich keine Zeit
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praktisch automatisch
satt.» Wie kommt mein Unterbewusstsein nur auf so was? Aber womöglich hatte ich
einfach nur Hunger.
     
    Kulturstadt Bielefeld
     
    Sonntagmorgen.
Im Bahnhof von Bielefeld steht ein mittelmäßig betrunkener Mann und singt
«Another Brick in the Wall» von Pink Floyd: «We don't need no education.» Habe
fast eine Stunde Aufenthalt. Fast eine Stunde werde ich das jetzt wohl hören:
«We don't need no education.» In einer Art
Endlosschleife. «We don't need no thought control. » Obwohl, wenn man sich mal so ein bisschen reingehört hat, muss man
zugeben: Für einen mittelmäßig Betrunkenen, sonntagmorgens um 7.15 Uhr am
Bahnhof Bielefeld, singt er relativ leise, und auch die Auswahl des Stückes
sowie seine sich und den Text immer wieder hinterfragende Interpretation, also
wie er zwischen «We don't need no» und «education» eine sehr, sehr lange,
Spannung aufbauende Pause lässt, bis er plötzlich explodiert, gerade als man
denkt, so, jetzt ist er doch weggedöst, da explodiert er in diesem «education»,
da ist Potential, und darüber hinaus ist sein Gesang auch beinahe schön.
    Kulturstadt
Bielefeld. Hier haben sogar die Bahnhofstrinker Niveau. Und sie können dann
auch noch viel mehr vom Text, als man gedacht hätte: «Hey teacher, leave us
kids ... alone.»
    Gehe zur
Bude der Baguettekette, will was bestellen, muss plötzlich eine Unmenge von
Entscheidungen treffen: Welches Sandwich? Welche Brotsorte? Getoastet - ja
oder nein und warum? Ääääähh, der Mann hört gar nicht mehr auf, mich Zeug zu
fragen. Welche Soße? Scharf oder mild? Welche Größe? Was soll das? Um 7.15 Uhr
morgens! Um 7.15 Uhr morgens fragt der mich hier lauter Zeug. Um die Uhrzeit
kann ich normalerweise nicht mal entscheiden, ob ich durch den Mund oder die
Nase atme. Welches Gemüse? Wie viel davon? Will ich ein Erfrischungsgetränk?
Das weiß ich doch nicht, und das will ich auch gar nicht wissen!!! Nachdem ich
während der ersten fünf Fragen noch über meine Antworten nachgedacht habe,
nehme ich am Ende als Soße «egal», als Gemüse «och» und das Erfrischungsgetränk
«bunt». Der Mann verzieht keine Miene und gibt mir halt irgendwas. Er kennt das
wohl schon. Am Ende fragt er mich, ob ich noch irgendeinen Wunsch habe. Denke,
ach, einen Versuch ist es wert, und sage: «Ja, ich möchte mich nie wieder am
Kinn rasieren müssen. Das ist furchtbar, da kommt man nicht richtig hin. Man
sieht es an der Kante nicht richtig, dann ist was stehengeblieben, dann zieht
man ohne Schaum noch rüber, dann hat man sich geschnitten, dann tropft es, das
ist schrecklich. Ich möchte mich nicht mehr am Kinn rasieren müssen.»
    Er schaut
mich nachdenklich an, fragt dann: «An welchem denn?»
    Gebe ihm
kein Trinkgeld. Er lächelt, das war es ihm wohl wert.
    Eigentlich
wollte ich ja gar kein Baguette. Aber nur in der Baguettebude und bei
McDonald's gibt es Sitzgelegenheiten in diesem Bahnhof. Bei McDonald's saß
schon eine Gruppe sehr, sehr schöner, sehr junger Mädchen. Da wollte ich mich
nicht dazusetzen. Neben sehr, sehr schönen, sehr jungen Mädchen falle ich
ästhetisch, also aussehenstechnisch, irgendwie immer so ein bisschen ab.
Zumindest glaube ich das. Ich weiß, wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein,
dass ich da ästhetisch abfalle, aber es hilft ja nix. Wenn sich so etwas mal im
Hinterkopf eingenistet hat, dann kriegt man es da nicht mehr raus. In der
Baguettebude ist außer mir nur noch der betrunkene Sänger. Da kann ich
mithalten. Als ich mich setze, fragt mich der Sänger, ob er mein Baguette
haben kann. Frage ihn, warum. Er sagt, ich hätte doch bestimmt sowieso nichts
gewollt. Außerdem könne er nicht singen, solange er esse. Gebe ihm die Hälfte
ab. Früher, sagt er, hätte es im Bahnhof auch noch unabhängige Bänke gegeben,
aber während des Umbaus hat die Bahn die abmontiert, und dann haben die sie
wohl vergessen. Jetzt könne man eben nur noch hier sitzen. Ihm sei es aber
recht, er habe seitdem schon mehrere Kilo zugenommen. Eine Wandergruppe kommt
in den Bahnhof. Knapp zwanzig Männer und Frauen, alle so Mitte sechzig, in
hochprofessioneller, wetterfester Wanderkleidung. Rucksäcke, Stöcke,
Gore-Tex-Textilien. Die Gruppe ist sehr laut und kollektiv verwirrt. Drei der
atmungsaktiven Männer spült es irgendwie an die Baguettebude. Vollkommen
konsterniert starren sie auf die riesige Angebotstafel. Der Baguettemann fragt
sie, was sie wollen. Das war ein Fehler. Es entwickelt sich ein
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