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Evers, Horst

Evers, Horst

Titel: Evers, Horst
Autoren: Fuer Eile habe ich keine Zeit
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traue mich aber nicht nachzufragen.
    Sergej ist
mittlerweile unten auf dem Hof angekommen und prügelt sich dort mit ein paar
anderen Jungen. Sie haben sichtlich Spaß. Wahrscheinlich war das mit diesem
Rumsingen doch auch nur so eine Phase.
     
    Sportstadt Nummer eins
     
    9. Mai, Sonntagnacht,
1.30 Uhr in Berlin-Kreuzberg. Warte in der Schlange vor einer Currywurstbude.
An einem der Stehtische drei Meter weiter steht ein angetrunkener Mann und
diskutiert pantomimisch mit der Schwerkraft. Also er schwankt in einer
Amplitude, dass man mehrfach fürchtet, er könne jeden Moment mit dem Gesicht in
seine Currywurst fallen. Eigentlich versucht man sogar, nicht zu ihm hinzuschauen,
um nicht überlegen zu müssen, ob es überhaupt eine kluge Entscheidung von ihm
war, jetzt noch eine Currywurst zu essen. Also, ob diese Currywurst in seinem
Falle überhaupt noch eine bleibende Anschaffung ist. Oder ob die sich nicht
eigentlich von vornherein eher auf der Durchreise befindet. Doch es gehört zu
den Phänomenen, zum Wunderbaren an nächtlichen Currywurstbuden, dass selbst
solche Kunden überraschen können. Wenn sie plötzlich, wie aus dem Nichts, so
ein inneres Leuchten bekommen, ein inneres Leuchten, das sie bald in einer
Weise strahlen lässt, die allen schnell klarmacht, hier wächst eine Erkenntnis,
eine Wahrheit, die sich ihren Weg bahnt, die nicht mehr aufzuhalten ist und
die schließlich dazu führt, dass der gerade noch so bedauernswerte Mann die
Stimme erhebt und zu den staunenden Menschen spricht:
    «Gute
Currywurst hier. Sehr gute Currywurst. So eine gute Currywurst bekommt man
sonst vielleicht höchstens noch - in Hamburg. Großartige Stadt! Hamburg! Ich
war heute in Hamburg! Großartige Stadt! Ganz Hamburg hat da heute den
Bundesliga-Aufstieg von St. Pauli gefeiert. Ganz Hamburg! Jetzt hat Hamburg zwei
Bundesligavereine. Ganz toll! Es gibt andere Städte, die sind vielleicht sogar
größer, vielleicht sogar ein bisschen wichtiger - und wie viele Bundesligisten
haben die? Wer will mal raten? Aber Hamburg, Hamburg hat natürlich zwei
Bundesligavereine. Hoffenheim! Hoffenheim hat fünfunddreißigtausend Einwohner.
Also eigentlich nicht mal Hoffenheim, sondern Sinssssheim! Die eigentliche
Stadt heißt ja Sinssssheim! Sinsssssssheim hat fünfunddreißigtausend Einwohner
und mehr Bunnnssssligisssten als Berlin. Allein in einer Straße! Zum Beispiel:
Landsberger Allee! Landsberger Allee in Marzahn! Da wohnen mehr Menschen als in
gansssss Sinsssssheim! Wie kann eine Stadt so viele Straßen haben wie Berlin,
und nirgends wohnt mal einer, der Fußball spielen kann? Mainzssss!
Kaissessssslautern! Mö-ö-ö-nnnchengladbach und Wolffffsburg!!! Die haben
zusammen! Zusammen! Zusammen haben die weniger Einwohner als Neukölln!!! Und
jedes einzelne Kaff hat mehr Bunnnnsligisten als ganz Berlin. Die ganze Welt
lacht über uns. Die ganze Welt. Und Europa!!! Fulham! Fulham!!! Ikea-Tempelhof
verkauft an einem Samstagvormittag mehr Hot Dogs, als ganz Fulham Einwohner
hat. Und die waren im Europapokalfinale! Also Fulham, nicht Ikea-Tempelhof!
Ganz Sinssssheim, also die ganze Stadt Sinsssheim, passt zweimal ins
Olympiastadion. Und das war noch nicht mal ausverkauft!!! Aber die haben mehr
Bunnnnsligisten als Berlin, einschließlich Brandenburg! Und
Mecklenburg-Vorpommern! Und Rügen! Wie kann das sein? Wahrscheinlich war es nur
diese Bescheidenheit. Das kann sein. Diese verdammte, typische Berliner Bescheidenheit.
Dieses: Wir hamm hier doch schon alles! Hier ist doch schon alles so toll. So
schööööönnn! Jetzt sollen auch mal die annaaarreeen!!! Das kann sein, also
München zum Beispiel, die hamm ja sonst nichts. Dann lass denen doch wenigstens
den Fußball. Da is ja sonst nichts groß, wenn die nicht wenigstens den Fußball
hätten, wer wollte denn da wohnen? Da muss doch auch einer wooohnen!!! Das wird
es sein. Diese verdammte, typische Berliner Höflichkeit! Aber nach außen sieht
das dann natürlich aus, als wären wir zu doof zum Fußballspielen!» Plötzlich
erstarrt sein Blick, als versuche er, jeden Einzelnen zu fixieren, um sicher zu
sein, dass seine letzte große Botschaft auch wirklich verstanden wird. Als er
dann der ungeteilten Aufmerksamkeit aller nächtlichen Kunden und der
Currywurstbuden-Belegschaft gewiss ist, brüllt er: «Will einer meine Wurst? Ich
kann nicht mehr!» Keine Reaktion. Er nickt verständnisvoll, schiebt die Pappschale
noch ein bisschen weg, Richtung Tischmitte, dreht sich um und bewegt sich dann
in
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