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Evers, Horst

Evers, Horst

Titel: Evers, Horst
Autoren: Fuer Eile habe ich keine Zeit
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Halbkreisen in die dunkle Nacht hinaus. Das verblüffte Publikum schaut ihm
nach, Einzelne klatschen.
     
    World of Mother
     
    Holger
sagt, er würde einen Menschen kennen, der, obwohl er in Berlin und seine Mutter
in Heidenheim in der Nähe von Ulm lebt, jeden Mittwoch gemeinsam mit seiner Mutter
zu Abend isst. Per Videokonferenz. Die Mutter kocht in Heidenheim, teilt dann
das Essen auf, tuppert beide Hälften ein, bringt eine zur Post, und schickt sie
nach Berlin. Spätestens zwei Tage später bekommt der Junge das Päckchen, wärmt
das Essen zur verabredeten Zeit am Mittwochabend auf, zu der auch die Mutter
ihre Hälfte aufwärmt, sodass beide dann gemeinsam, eben per Videokonferenz, zu
Abend essen können. Das von der Mutter gekochte Gericht. Seit zwei Jahren
machen sie das schon so. Jeden Mittwochabend hat der Mann quasi ein Stückchen
Heimat, ja sogar Kindheit zurückgewonnen.
    Versuche
mir vorzustellen, was die Freundin dazu sagen würde, wenn jeden Mittwoch ein
Paket mit einem eingetupperten Gericht meiner Mutter käme, das wir dann per
Videokonferenz zusammen mit ihr essen würden. Ich glaube, sie würde es seltsam
finden. Schon deshalb, weil meine Mutter seit fünf Jahren tot ist. Andererseits
würde das diesen Essenspaketen natürlich nochmal eine ganz eigene Aura
verleihen.
    Holger
sagt, das sei doch ein Riesenmarkt, eine super Geschäftsidee.
    Ich sage:
«Was? Eingetuppertes Essen verschicken? Vielleicht zusätzlich mit Gerüchen aus
der Küche und dem ganz eigenen Duft der elterlichen Wohnung, abgefüllt in Ampullen
oder Gläsern, um das wärmende Heimatgefühl bei den Bildtelefonaten oder den
Videokonferenzen noch zu verstärken?»
    Ich kenne
die Geschichte von einem jungen Vater, der viel auf Geschäftsreisen gehen
musste, oft auch mehrere Tage lang. Aus Heimweh nach dem Kind hat er sich, sagt
man, getragene Originalwindeln nachschicken lassen, wo er dann ... Doch das
ist vielleicht auch nur so eine moderne Legende. «Das kann man natürlich auch
machen, also das mit dem eingetupperten Essen», sagt Holger, «aber der
Riesenmarkt, das sind die Mütter, also virtuelle Mütter. Millionen von Menschen
verbringen tagtäglich weltweit viele, viele Stunden bei irgendwelchen
Online-Rollenspielen im Internet. Alles gibt es da, von World of Warcraft bis
zu irgendwelchen Tamagotchi-Varianten. Was es jedoch noch nicht gibt, das ist
so eine Art virtuelle Mutter-Simulation. World of Mother! WOMÜ!» Holger wippt
wieder. Immer wenn er meint, er habe eine ganz besonders gute Idee, beginnt er
rhythmisch zu wippen. Frage ihn, ob seine Warzenbesprechungspraxis nicht mehr
laufe oder warum er schon wieder einen neuen Hamster ins Rad schicken will.
    Er sagt,
die Warzenpraxis laufe super, aber eben auch von allein, da habe er Kapazitäten
frei und diese Idee sei ja wohl brillant: «Verstehste, Horst, bei meinem
Onlinespiel muss man nicht ein virtuelles Haustier, eine Farm oder ein kriegerisches
Dorf versorgen, sondern man versucht, bei einer virtuellen Mutter Punkte zu
sammeln. Dafür gibt es viele Möglichkeiten: Zimmer aufräumen, Abwasch machen,
Fenster putzen oder ähnliche Sachen, die einer Mutter gefallen.» Um Holger
einen Gefallen zu tun, nicke ich und sage: «Toll. Du bist garantiert der Erste
und Einzige, der diese Idee hat.»
    Holger
hört mich schon gar nicht mehr. «Verstehste, Horst? Das Besondere ist, statt
eines virtuellen Wesens umsorgt man praktisch sich selbst, bekommt dafür dann
aber Punkte. Damit man auch das Gefühl hat, dass es sich lohnt, wenn man etwas
für sich tut. Dieses Gefühl erhält man durch die Punkte, verstehst du?»
    Jetzt wird
sein Wippen fast zu einem Hüpfen. Um nicht Gefahr zu laufen, dass er mir das
Ganze noch einmal noch ausführlicher und noch höher springend erzählt, lüge
ich: «Ja, ich verstehe genau, was du meinst. Das ist eine außergewöhnliche
Idee.»
    Tatsächlich
denke ich jedoch, so ein idiotisches Computerspiel können sich nur Eltern
ausdenken. Obwohl, wenn man die Leistungen wie Zimmer aufräumen oder ein Musikinstrument
üben etwa mittels einer Digitalkamera nachweisen müsste, dann könnte man für
das Spiel vielleicht Fördergelder vom Innenministerium bekommen. Oder eventuell
auch von «Google Home View». Trotzdem bestätige ich Holger in seinem
Enthusiasmus, weil ich noch immer ein schlechtes Gewissen habe, da ich ihm vor
Jahren mal eine seiner schwachsinnigen Ideen ausgeredet habe. Damals wollte er
irgendwie so weltweite soziale Netzwerke im Internet
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