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Erstkontakt

Erstkontakt

Titel: Erstkontakt
Autoren: Jack McDevitt
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begann.«
    »Meine Glaubenskrise?« Wheeler lächelte. »Die ist ganz allmählich eingetreten, denke ich.«
    Mit laufendem Motor saßen sie eine lange Minute schweigend nebeneinander. »Pete«, sagte Harry schließlich, »ich kann kaum glauben, daß ein Mensch seinen Glauben verlieren kann, indem er durch ein Teleskop blickt. Ich denke, das sollte eher die gegenteilige Wirkung haben. Erinnern Sie sich an die Männer, die im Orbit und auf dem Mond gebetet haben? Einer von ihnen kehrte zurück und hat sich auf die Suche nach Noahs Arche gemacht.«
    Wheeler lachte. Sein Lachen klang indes nicht glücklich, sondern verriet, daß der Priester seinem verlorenen Glauben nachtrauerte.
    »Wäre Leslie hier, würde sie Ihnen vermutlich sagen, daß Ihre Maske, die Sie nach außen hin aufsetzen, nichts als ein Vorwand ist.«
    »Meinen Sie?«
    »Ja. Und sie würde Ihnen auch sagen, daß es helfen würde, darüber zu reden.«
    Sie verließen den Parkplatz und fuhren wieder Richtung Greenbelt. Es herrschte kaum Verkehr, und die vereinzelten Häuser am Straßenrand wirkten düster und verlassen.
    »Ich weiß nicht«, sagte Wheeler nach minutenlangem Schweigen. »Gleich nach meiner Ordination bin ich nach Philadelphia geschickt worden, um dort die angehenden High-School-Absolventen in Physik zu unterrichten. Wir fuhren dort die Bischof-Neumann-High. Da gab es auch einen Harry. Harry Tockett. Er war siebzehn, als er in meine Klasse kam. Kurz zuvor hatte man bei ihm Amyotrophische Lateralsklerose diagnostiziert. Die Krankheit, an der im vorigen Jahrhundert auch der Profibaseballspieler Lou Gehrig gestorben ist. Harry befand sich damals bereits in den ersten Stadien, und wir wußten, daß er schon bald allenfalls noch ohne fremde Hilfe atmen könnte.« Die Beleuchtung auf dem Highway erhellte in rhythmischen Abständen von vielleicht zwanzig Sekunden den Innenraum des Chryslers. »Ungefähr nach drei Monaten kam er in den Rollstuhl. Wissen Sie, wie Kinder einen Klassenkameraden behandeln, der ernsthaft behindert ist?«
    Als Harry die achte Klasse besuchte, hatte er einen Mitschüler gehabt der unter epileptischen Anfällen litt. »Ja, das weiß ich in der Tat«, antwortete er.
    »Die Schüler versuchen nett zu ihm zu sein, aber sie meiden ihn. Ganz automatisch. Sie wissen nicht, wie sie mit Behinderten umgehen sollen, deshalb findet der betroffene Schüler keine Freunde. Damals erklärten Harrys Ärzte, daß es mit ihm nur noch bergab gehen würde. Daß er vielleicht nur noch wenige Jahre zu leben hätte. Die Wünsch-dir-was- Stiftung hörte von Harry und nahm sich seiner an.« Wheeler klang betroffen.
    »Was haben sie für ihn getan?«
    »Er wollte einmal im Leben Curt Schilling begegnen, dem Werfer der Phillies. Die Stiftung leitete alles in die Wege. Schilling besorgte Harry und seinen Angehörigen Logenplätze für eines seiner Spiele, führte sie zum Essen aus und schenkte ihm einen Baseball, auf dem die ganze Mannschaft unterschrieben hatte. Er lud Harry ein, jederzeit wiederzukommen, wenn er könnte.«
    Der Chrysler fuhr auf eine schmale Brücke. Das bislang gleichmäßige Summen der Reifen klang auf dem metallischen Untergrund anders.
    »Ich lernte seine Familie sehr gut kennen. Das war wohl ein Fehler, glaube ich. Wir alle glaubten an Gott, und ich ertappte mich dabei, wie ich zu erklären versuchte, warum Gott so etwas wie Harrys Krankheit auf der Welt zuläßt. Ich versuchte es nicht nur seinen Eltern zu erklären, sondern auch mir selbst. Und wissen Sie was? Ich hatte keine Erklärung. Die Eltern hätte ich vielleicht zufriedenstellen können. Sie hatten sich schon damit abgefunden, daß das Leid wohl zum Leben gehört. Daß es eine Art unverständliche Vereinbarung mit dem Allmächtigen sei. Aber mich, mich hat diese Erfahrung verletzt. Mein Gott, Harry, ich habe den Jungen jeden Tag gesehen. Und er benahm sich trotz alledem so, als habe er eine Zukunft. Irgendwann in dieser Zeit bin ich von meinem Weg abgekommen.«
    Harry wußte, daß Wheeler ihn nicht ansah, und nickte nur.
    »Ich habe immer geglaubt, daß der Glaube sich einer Prüfung unterziehen müsse. Daß man eine Tortur durchleben müsse, ehe man von sich behaupten könne, ein wahrer Gläubiger zu sein. Ich glaube, daß ich zumindest damit richtig gelegen habe.« Er seufzte tief. »Deshalb fühle ich mich wie ein Heuchler.«
    »Weshalb?«
    »Weshalb? Ich bin Priester, Harry.«
    »Das ist okay. Die Welt braucht Priester. Und Sie haben gewiß einen Grund, warum Sie
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