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Eros

Eros

Titel: Eros
Autoren: Helmut Krausser
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aufsammeln
und trug sie zum Wagen zurück. Gott, wenn du doch nicht ganz so grausam bist
und der Schnee nur ein Vorwand war, Sofie auf meinen Armen halten zu dürfen,
dann sei dir verziehen.
    Sie heulte, verbarg ihr Gesicht hinter Fäusten, die vor Kälte
zitterten. Und nicht nur vor Kälte.
    »Wer bist du?« schrie sie mich an. »Was hast du mit mir vor?«
    Ich legte beide Decken, die da waren, über ihren zitternden Körper,
wischte ihr die wirren, feucht gewordenen Haarsträhnen aus dem Gesicht,
versuchte, sie zu beruhigen. »Hab keine Angst«, flüsterte ich. »Hab keine
Angst!«
    Was hätten Sie gesagt? Wäre Ihnen etwas Besseres
eingefallen? Die Musik lief immer noch, die Cassette war beim letzten Lied
angekommen, and
in the end the love you take is equal to the love you make wurde
da gesungen, und ich hielt Sofie im Arm, ein Liebender, der seine Geliebte
wärmen wollte. Der Moment war so unentschlossen, gleichzeitig wundervoll und
schrecklich. Sie weinte, ich auch, sie hörte irgendwann auf zu weinen und
begann sich zu wundern, warum ich weinte.
    Ich spürte ihre Finger in meinem Haar, ihren Handrücken auf meiner
Schläfe.
    »Wer bist du?« fragte sie erneut, ruhig diesmal und beinahe
zärtlich.
    Ich habe sie geküsst, nur einmal und sehr kurz, auf ihre Lippen,
aber ich habe geschwiegen.
    Bis heute weiß ich nicht, ob sie mich in diesem Augenblick erkannt
hat, ich dachte, es gab da ein leichtes Zucken in ihrem Gesicht, kann sein, ich
weiß es nicht, aber der Kuß, mein Gott, der Kuß –
    Nach einer minutenlangen Pause erklang vom Band das
Bonuslied, Her
Majesty is a very nice girl – das passte nun überhaupt nicht zur
Stimmung, naja. Es gibt in jedem Leben mindestens eine Sekunde der
Göttlichkeit, wenn sozusagen das andere, sonst Verborgene, sich offenbart und sinnlich
wird – und es gibt den Moment danach, wenn alles ist wie zuvor. Eine von Westen
eintreffende Warmfront rettete uns. Just fiel kein Schnee mehr, nur noch Regen,
bald nicht einmal mehr Regen. Ich steuerte den Wagen zurück auf die Straße, wir
erreichten bei langsamer Fahrt die Grenze gegen ein Uhr nachts. Ich reichte dem
Grenzer die Pässe, er überprüfte sie, besah sich uns beide, gab die Pässe
zurück, ich reichte sie Sofie, sie solle sie ins Handschuhfach legen, sie warf
einen Blick auf meinen, las, daß ich ihren Geburtsnamen trug oder ihn mir
zumindest zugelegt hatte, und sie lachte, ich habe nie einen Menschen so lachen
hören, tonlos, heiser, fast ein Winseln, es ist kaum zu beschreiben, aber Sie
werden das für mich beschreiben, Sie werden mir das alles erklären. Nicht?
    Drüben, auf dem Gebiet der BRD, bat Sofie darum, ich solle
den Wagen anhalten. Ich dachte, sie müsse auf die Toilette, und fuhr auf einen
Rastplatz. Dort entstieg sie dem Opel, nahm ihren Paß, schob ihn ein und
verabschiedete sich von mir. Ganz unaufgeregt, fast belanglos.
    »Danke.«
    »Wo willst du denn hin? Brauchst du Geld?«
    »Mach dir keine Sorgen!« sagte sie und verschwand um die Ecke.
    Ich habe Stunden auf sie gewartet, habe sie gesucht, stieg aus und
schrie ihren Namen in die Nacht.
    Es war das letzte Mal, daß ich sie sah. Wahrscheinlich hat irgendein
LKW-Fahrer sie mitgenommen.
    Morgens wurde in den Leipziger Lokalnachrichten gemeldet,
daß Inge S., eine Angestellte des Dimitroff-Museums, nach einem Zimmerbrand nur
noch tot aus ihrer Wohnung geborgen werden konnte. Es existiert ein Grab auf
ihren Namen.
    Ich kehrte zurück ins Eulennest und wartete darauf, daß Sofie sich
melden würde, ich wartete und wartete. Aber sie scheint es gut ohne mich
geschafft zu haben. Das ist jetzt fast fünfzehn Jahre her.
    Sofie Kramer wurde nie gefaßt. Nach der Wende kam heraus, daß sie
Inge Schulz gewesen war, und Inge Schulz war tot. Das BKA hatte noch Zweifel,
es gab eine Exhumierung mit DNA-Vergleich. Ich bog das hin. Seither wird nicht
mehr nach ihr gefahndet. Sie lebt irgendwo, vielleicht, ich habe keine
Anstalten mehr gemacht, nach ihr zu suchen. Wovon sie lebt, wenn sie denn noch
lebt, weiß ich nicht. Es geht mich auch nichts an. Ja. Das war’s. Haben Sie auf
ein Happy End gehofft?
    »Das ist doch ein Happy End.«
    »Ja? Vermutlich. Vermutlich haben Sie Recht.«
    Von Brücken wirkte erschöpft. Er bettete seinen Kopf auf das Kissen,
schloß die Augen, es dauerte eine Weile, bis ich mich aufraffte, nach dem Arzt
zu klingeln.
    Lukian meinte am Abend, mein Aufenthalt sei nicht länger
vonnöten, der Hausherr habe außer Grüßen und guten Wünschen
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