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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Autoren: Brian Ruckley
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Prolog
    Das Dritte Zeitalter
Jahr 942
    Die Einsamkeit der Wildziegen, die an den Felsflanken oberhalb des Tals der Steine lebten, wurde selten gestört. Auch wenn das Tal die einzige Lücke durch den hohen Riegel des Tan Dihrin bildete, führte der Pass nirgendwohin. Die öden, eisigen Gefilde des Nordens wurden nur von primitiven Wilden bewohnt. Es gab nichts, das Händler oder Eroberer aus den südlich gelegenen Ländern der Kilkry-Stämme in diese Gegend gezogen hätte.
    Als sich daher unvermutet ein Menschenstrom die Hänge herauf und durch das Tal der Steine wälzte, gerieten die Ziegenherden auf ihren hoch gelegenen Steilhalden in Unruhe. Böcke stampften zornig; Geißen riefen nach ihren Kitzen. Bald lagen die Klippen verlassen da, und nur die stummen Felsen waren Zeugen jenes außergewöhnlichen Marschs, der zehntausend Menschen in ein kaltes Exil führte.
    Angeführt wurde der lange Zug von gut hundert berittenen Kriegern. Viele trugen frische Wunden von der verlorenen Schlacht auf den Feldern bei Kan Avor; alle waren bleich, mit rot geränderten Augen, die von Erschöpfung zeugten. Hinter ihnen kam eine große Schar von Frauen, Kindern und Männern, letztere in der Minderzahl. Es gab in jenem Jahr Tausende von neuen Witwen.
    Es war ein erzwungener Exodus. Harter Fels und scharfkantige Steine verstauchten Knöchel und zerschnitten Fußsohlen. Niemand durfte rasten. Diejenigen, die stürzten, wurden von den Nachdrängenden gepackt und unter lauten Anfeuerungsrufen aufgerichtet, als könne Lärm allein ihren Beinen neue Kraft verleihen. Wer sich nicht mehr erheben konnte, wurde zurückgelassen. Dutzende von Bussarden und Raben glitten bereits in trägen Kreisen über der Kolonne. Manche waren ihr den ganzen Weg vom Tal des Glas aus dem Süden herauf gefolgt; andere, die in den Bergen lebten, hatte die Verheißung auf Aas von ihren hohen Horsten heruntergelockt.
    Es gab einige Wohlhabende unter den Flüchtlingen, die durch das Tal der Steine zogen – Kaufleute und Grundbesitzer aus Kan Avor oder Glasbridge. Was immer sie in der Panik der Flucht an Habseligkeiten zusammengerafft hatten, glitt ihnen nun durch die Finger. Maultiere stolperten und brachen unter vollgestopften Satteltaschen zusammen, besiegt vom Gewicht der Wertsachen oder den Peitschen der verzweifelten Führer; Räder und Achsen zersplitterten an Felsbrocken, Karren kippten um und verloren ihre kostbare Fracht. Diener, durch gutes Zureden oder Drohungen bewogen, die Packen ihrer Herren zu schleppen, entledigten sich ihrer Last, sobald die Erschöpfung stärker wurde als die Furcht. In einem langen Leben angehäufte Vermögen lagen verstreut und unbeachtet entlang des Wegs, so wie an den Felswänden des Passes abgeschürfte Hautfetzen hingen.
    Avann oc Gyre, Than des Hauses Gyre und selbst ernannter Beschützer des Glaubens vom Schwarzen Pfad, ritt inmitten des gemeinen Volks. Seine Leibgarde, die Männer, die geschworen hatten, Tag und Nacht über ihn zu wachen, hatte längst den Versuch aufgegeben, die Leute von ihrem Herrn fernzuhalten. Der Than selbst achtete nicht auf die Menschenmassen, die ihn umdrängten. Er saß vornübergebeugt im Sattel und machte sich nicht die Mühe, sein Pferd zu lenken, sondern ließ sich vom großen Strom der Flüchtenden treiben.
    Die Wange des Thans war mit Blut verkrustet. Er hatte vor seiner geliebten Stadt Kan Avor im dichtesten Gewühl der Schlacht gestanden und nur deshalb überlebt, weil die Leibgarde sich seinem ausdrücklichen Befehl widersetzt und ihn aus dem Kampfgetümmel gezerrt hatte. Der Schnitt an der Wange war allerdings wenig mehr als ein Kratzer. Verborgen unter den Gewändern und blutdurchtränkten Verbänden befanden sich schlimmere Wunden, die den Than zunehmend schwächten. Die Lanze eines Kilkry-Reiters hatte ihn durchbohrt und, da sie bei dem Stoß zerbrochen war, Holzsplitter im Stichkanal hinterlassen. Vielleicht hätten ihm die vorzüglichen Heiler in seinen Diensten das Leben retten können, wenn genügend Zeit gewesen wäre, ein Zelt zu errichten und die Wunden zu versorgen. Aber Avann hatte jede Maßnahme abgelehnt, die eine Verzögerung bedeutet hätte, und sich sogar geweigert, das Pferd mit einer Sänfte zu vertauschen.
    Die Reste der Kampftruppen gaben dem Zug Rückendeckung. Noch zwei Jahre zuvor war das Gyre-Heer in den Ländern der Kilkry-Geschlechter als besonders tüchtig gerühmt worden, doch seither hatte das erbarmungslose Gemetzel unter den Kriegern gewütet wie ein
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