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Eros

Eros

Titel: Eros
Autoren: Helmut Krausser
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schneit es leicht.
    »Wie lautet die Anklage?« flüstert Inge Schulz ständig vor sich hin.
    Fritz L. muß die Ladenschlüssel aushändigen, darf danach gehen, ein Recht, von
dem er eiligst Gebrauch macht, nicht ohne einen sorgenvollen, auch
entschuldigenden Blick zurück auf seine beste Kundin. Danach ist es still im
Raum.
    Die Außendienstler vom MfS zünden sich Zigaretten an, geben Inge
Schulz eine, ohne daß sie darum gebeten hätte. Ansonsten tun sie so, als sei
alles im Lot und keine Erklärung nötig. Unterhalten sich über einen Film, der
diese Woche angelaufen ist, und wie die Hauptdarstellerin ihre Rolle zur
allgemeinen Zufriedenheit bewältigt hat. Inge Schulz glaubt an parabolisches
Gerede, dabei ist es nur Geschwätz, ein Gleitmittel für die Zeit. Wenn sie
versucht aufzustehen, drückt eine Hand ihre Schulter hinab, also bleibt sie
sitzen, stellt Fragen, die niemand beantwortet. Plötzlich klopft es an die
Ladentür. Wieder das Geräusch des Schlüssels. Ein Mann tritt ein, er wirkt
unsicher, ihm steht der Schweiß auf der Stirn, ganz so, als müsse er sich erst
versichern, hier richtig zu sein. Inge ist aufgestanden, diesmal ungehindert.
    Wer ist das? Sie kennt den Mann von irgendwoher, auch wenn er sich
verändert hat. Woher? Der Mann, ein schon älterer Mann, aber drahtig und
schlank, mittelgroß, räuspert sich und sagt in die Runde: »Tja.«
    Tja was? Was geht hier ab? Niemand antwortet diesem Herrn. Ein
Henker vielleicht?
    »Dann werde ich Frau Schulz mal übernehmen.«
    Der Mann mit der tonlosen Stimme sieht gar nicht wie Stasi aus,
obwohl sich das so einfach gar nicht sagen läßt. Was genau läßt Stasi wie Stasi
aussehen? Der Mann wendet sich ihr zu. Warum wirkt er so verdruckst, fast verlegen?
    »Frau Inge Schulz?«
    »Ja?«
    »Kommen Sie bitte mit?«
    Sie kennt diesen Mann, kramt in der Erinnerung. Irgendwoher kennt
sie ihn.
    Inge kommt ihm ein paar Schritte entgegen, die drei Stasi-Typen
lassen es geschehen. Machen keinen Mucks. Der Mann reicht ihr seine Hand. Sie
läßt seine Hand, ungeschüttelt, waagrecht im Raum stehen.
    »Frau Schulz, ich bin hier, um Sie abzuholen. Kommen Sie bitte mit.
Vertrauen Sie mir.«
    Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Jederzeit erwartete
ich einen Eingriff, irgendeine Spielverderbnis, gibt es dieses Wort? Nein? Egal.
Wenngleich ich mir, bei vollem Verstand, hätte sagen müssen: Ich bin Alexander
von Brücken, niemand kann mir was, ohne eine Staatskrise herbeizuführen. Aber
was sollte ich nur Sofie sagen? Ich sah, daß sie unter Todesangst litt. Und
dennoch, dennoch schien es ratsam, nicht gleich mit der Wahrheit rauszurücken.
Gesetzt den Fall, ich hätte gewußt, mit welcher Wahrheit. Sie hatte
offensichtlich ein bißchen was getrunken, setzte ihre Schritte unsicher, aber
ihr Geist schien klar und ernüchtert.
    Ich bat sie, in meinem Wagen Platz zu nehmen, auf dem Beifahrersitz.
Der Wagen stand in einer engen Garage, die zum Laden gehörte. Es wurde bereits
dunkel. »Hör zu«, sagte ich, »du mußt mir vertrauen. Erinnerst du dich an
mich?«
    Inge Schulz erinnert sich, gibt es aber nicht zu und
schüttelt den Kopf. Das ist dieser Boris, von einst, der Taxifahrer – er ist
also Stasiagent gewesen? Traurig. Ihr ist klar, daß es um alles geht. Warum diese Umstände?
Wofür dieses ganze Gequatsche?
    Sie gab mir keine Antwort. Die Melancholie in ihren Zügen – ihr Gesicht war Musik, voller Angst, Erwartung, Hoffnung, Verzweiflung,
alles, und diese Musik war nur für mich zu hören, ich wollte erst nicht
sprechen, kein Wort wollte ich sprechen, um diese Musik nicht zu zerreden. Bis
mir bewußt wurde, daß ich etwas sagen mußte, irgendetwas. Nein,
nicht irgendwas. Bloß nicht irgendwas .
    »Hör mir gut zu. Wir werden aus dieser Stadt hinausfahren
und in den Westen. Du darfst leider nicht neben mir sitzen. Niemand soll dich
mit mir sehen. Dürfte ich dich bitten, in den Kofferraum zu steigen? Es wird
eng, vertrau mir, es dauert nicht lang. Sobald wir aus Leipzig raus sind,
darfst du vorne sitzen, wie jetzt. Ist das okay für dich?«
    »Ich soll in den Kofferraum?«
    »Nur für eine Viertelstunde. Bitte!«
    Man muß sich das vergegenwärtigen. Vor dem halbgeöffneten Garagentor
standen die drei Stasischergen, Hände in den Manteltaschen, und sahen uns
interessiert zu. Da wollte man um Himmels willen keinen Fehler begehen.
    »Ich soll da hinten hineinkriechen?«
    »Bitte, Sofie, ja, tu das.«
    »Ich will aber nicht.«
    »Das verstehe ich vollkommen. Tu
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