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Entfuhrt

Entfuhrt

Titel: Entfuhrt
Autoren: Koppel Hans
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wir bald wieder schwimmen gehen«, meinte Mike.
    »Wie warm ist es denn?«
    »Das Wasser? Ich weiß nicht, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Grad.«
    »Da kann man doch schon baden gehen?«
    »Klar«, meinte Mike. »Aber etwas kalt ist es schon.« Er fuhr links um das Haus herum, das er als Kind das Taxi-Johansson-Haus genannt hatte. Seinem Besitzer hatte das einzige Taxi des Dorfes gehört, ein recht alter, schwarzer Mercedes. Darin hatte er die Schulkinder einmal im Jahr zum Schulzahnarzt nach Kattarp gefahren. Jetzt wohnte jemand anderes in dem Haus, und kaum jemand wusste noch, wer Taxi-Johansson war, obwohl das alte Taxi-Schild immer noch an der Garage hing.
    Es hatte sich allerhand verändert, seit Mike aus den USA gekommen war. Die Frauen lagen nicht mehr topless in der Sonne, es gab eine stattliche Anzahl privater Fernsehsender, unnötig große Autos fuhren auf den Straßen herum, und es war keine Schande mehr, andere Jeans als Levis 501 zu tragen.
    Gleich nachdem sie nach Schweden gezogen waren, hatte seine Mutter ein Kleidergeschäft in der Kullagatan aufgemacht. Jeans und Sweatshirts mit UCLA- und Berkeley-Aufdrucken. Fast alle Schüler aus Mikes Klasse hatten dort eingekauft. Seine Freunde bekamen Rabatt.
    Der Laden lief gut, und sein Vater hatte eine Arbeit.
    Als er erwachsen war, hatte Mike zu rekonstruieren versucht, ab wann alles schiefgegangen war. Manchmal
glaubte er, die Antwort zu kennen, aber wenn er dann den Blick auf einen einzelnen Punkt richtete, fiel ihm etwas anderes ein, was genauso entscheidend gewesen war.
    Der Tod seines Vaters war das große Ereignis gewesen. Er war mit dem Auto in der Nähe von Malmö gegen einen Brückenpfeiler gerast, als Mike dreizehn Jahre alt war. Seine Mutter hatte den Vorfall immer als unglücklichen und unnötigen Unfall bezeichnet.
    Mit siebzehn kam Mike zu dem Schluss, dass es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um einen geplanten Selbstmord gehandelt hatte. Er hatte das auf Umwegen erfahren. Als er seine Mutter darauf ansprach, antwortete sie ausweichend, und er sah ein, dass sie ihn vier Jahre lang hinters Licht geführt hatte.
    Er konnte sich noch an das Gefühl der Distanz und Leere erinnern. Niemanden zu haben. Sein Magen war leer, und er hatte einen metallischen Geschmack im Mund.
    »Das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen«, hatte seine Mutter erklärt. »Er hat keinen Brief oder so etwas hinterlassen. Und kurz zuvor wirkte er noch so fröhlich.«
    Das, meinten die Experten, sei nicht ungewöhnlich. Wie eine Kerze, die ein letztes Mal aufflackert, ehe sie erlischt, konnte man häufig eine kurze Phase der Gelassenheit bei denen beobachten, die den Beschluss gefasst hatten, sich das Leben zu nehmen.
    Mike hatte sich schon lange mit dem Verrat seiner Mutter ausgesöhnt, aber die Erkenntnis, im Grunde allein auf sich gestellt zu sein und sich auf niemanden verlassen zu können, hatte sich ihm auf ewig eingebrannt.

    Das klang irgendwie albern. Ihm hatte es an nichts gefehlt. Und ging es ihm inzwischen nicht richtig gut? Mit Frau und Kind und einer gut bezahlten Arbeit.
    Ehrlicherweise musste gesagt werden, dass er die Veränderung schon lange vor dem Tod seines Vaters gespürt hatte. Veränderung war vielleicht das falsche Wort, es war eine Verschiebung gewesen. Von gut zu schlecht.
    Sein Vater hatte einige Jahre nach seiner Rückkehr nach Schweden seine Arbeit verloren. Der Jeansladen, der bislang nur ein einträglicher Zeitvertreib gewesen war, wurde zur einzigen Einkommensquelle der Familie. Er lief immer schlechter, da die Kunden nicht mehr im Ort, sondern im Väla-Shoppingcenter einkauften.
    Es wurde zunehmend schwerer, in dem Villenviertel Schritt zu halten, in dem man mit einer Uhr ohne Zeiger keinen Eindruck mehr schinden konnte.

    »Kannst du sprechen?«
    Der Mann schlug Ylva leicht auf die Wange.
    »Wasser«, lallte sie.
    »Man bekommt Durst«, meinte der Mann.
    Er war umsichtig genug gewesen, ein Glas mitzunehmen. Er hielt es Ylva an den Mund, ließ sie trinken. Ein Teil lief ihr aus dem Mundwinkel, und Ylva versuchte ihn instinktiv mit der festgeketteten Hand wegzuwischen.
    »Du kannst selbst trinken«, sagte der Mann.

    Er zog einen Schlüssel hervor und öffnete die Handschelle, die Ylvas rechte Hand fesselte. Sie rückte ans Kopfende zurück, bis sie aufrecht saß. Dann nahm sie das Glas und trank es in einem Zug leer.
    »Mehr?«, fragte der Mann.
    Ylva nickte und reichte ihm das Glas. Er ging zum Spülbecken und füllte nach. Der
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