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Entfuhrt

Entfuhrt

Titel: Entfuhrt
Autoren: Koppel Hans
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las die Namen. Natürlich. Er. Und der da. War das nicht die Schwester von …? Die Tochter seines Lehrers wirkte auf dem Foto, als würde sie am liebsten im Erdboden versinken. Und da, der Typ, der das Jugendzentrum angezündet hatte. Und die da hatte sich das Leben genommen. Und das arme Würstchen, das sich um seine Geschwister kümmern musste und im Unterricht immer eingeschlafen war.
    Eine Erinnerung nach der anderen wurde wach.
    Schließlich seine Klasse. Jörgen zuckte zusammen. Sie waren Kinder, Haarschnitte und Kleider zeugten von vergangenen Zeiten. Trotzdem erfüllte ihn das Schwarz-Weiß-Foto mit Unbehagen.

    Er ließ den Blick wandern, betrachtete ein Gesicht nach dem anderen.
    Seine ehemaligen Mitschüler starrten ihn an. Jörgen hörte fast die Geräusche in den Schulfluren, die Kommentare, Schreie, das Gerangel, Gelächter. Der Kampf um eine Position in der Hierarchie, noch nichts anderes. Auf welcher Stufe man sich befand. Die Mädchen mehr im Verborgenen, die Jungen handgreiflicher.
    Die vier Aufmüpfigen ganz hinten. Die Arme verschränkt, starrten sie selbstsicher in die Kamera, als gehörte ihnen die ganze Welt. Ihren zufriedenen Mienen nach zu urteilen, konnten sie sich keine andere Welt oder Zeit als die vorstellen, in der sie sich befanden.
    Einer der vier, Morgan, war vor einem Jahr an Krebs gestorben. Jörgen fragte sich, ob er jemandem fehlte. Ihm fehlte er nicht.
    Er ging die Namen durch. Einige hatte er vergessen, und er musste immer wieder das Foto anschauen, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Ach ja.
    An zwei oder drei Mitschüler erinnerte er sich überhaupt nicht. Die Gesichter und Namen lösten nichts aus. Sie waren aus seinem Gedächtnis gelöscht wie die Gesichtslosen auf dem Bild von Lasse Åberg.
    Jörgen betrachtete sich selbst, eingeklemmt in der ersten Reihe, kaum sichtbar und mit einem Gesichtsausdruck, als wünsche er sich weit weg.
    Calle Collin wirkte fröhlich. Etwas abwesend, unbekümmert, was sein Außenseitertum betraf, in sich selbst ruhend.

    Die Lehrerin. Um Gottes willen! Die alte Krähe war auf dem Foto jünger als er jetzt.
    Er stellte die Umzugskartons zurück und nahm das Schülerjahrbuch mit nach oben. Er wollte die Bilder so lange anschauen, bis sie ihm keine Angst mehr machten.
    Jörgen ging in die Küche und rief seinen Freund an.
    »Gehen wir ein Bier trinken?«
    »Nur eins?«, erwiderte Calle Collin.
    »Zwei, drei, so viel du willst«, meinte Jörgen. »Ich habe das alte Schülerjahrbuch gefunden. Ich bringe es mit.«
    »Muss das sein?«

6. KAPITEL
    Mike Zetterberg holte seine Tochter um halb fünf vom Hort ab. Sie saß an einem der Tische ganz hinten im Raum und war in einen alten Zauberkasten vertieft. Als sie ihren Vater kommen sah, strahlte sie wie in den ersten Jahren, wenn er sie vom Kindergarten abgeholt hatte.
    »Papa, guck mal.«
    Sanna hatte einen Eierbecher aus Plastik vor sich stehen. Einen dreigeteilten Eierbecher mit Plastikdeckel. Mike war klar, dass die Wiedersehensfreude davon gespeist wurde, dass er Publikum spielte.
    »Hallo, meine Kleine.«
    Er küsste sie auf die Stirn.
    »Schau mal«, sagte sie und hob den Deckel von dem Eierbecher. »Hier ist ein Ei.«
    »Das sehe ich«, erwiderte Mike.
    »Jetzt werde ich es wegzaubern.«
    »Das geht doch wohl nicht?«, sagte Mike.
    »Doch. Schau mal.«
    Sanna setzte den Deckel wieder auf und ließ die Hand über dem Eierbecher kreisen.

    »Simsalabim.«
    Sie hob den Deckel ab. Das Ei war verschwunden.
    »Was? Wie hast du das denn gemacht?«
    »Aber Papa, das weißt du doch.«
    »Nein«, erwiderte Mike.
    »Doch, ich habe es dir doch gezeigt.«
    »Ach?«
    »Das ist gar kein richtiges Ei.«
    Sanna hielt ihm das hohle Zwischenteil unter die Nase, das im Deckel des Eierbechers verschwunden war.
    »Das wusstest du«, sagte Sanna.
    Mike schüttelte den Kopf.
    »Da muss ich es wohl vergessen haben«, meinte er.
    »Nein.«
    »Doch, ganz sicher. Vermutlich, weil du es so gut hingekriegt hast.«
    Sanna verstaute die Sachen wieder in den Fächern des Kastens.
    »Zauberst du gern?«, fragte Mike.
    Sanna zuckte mit den Schultern.
    »Manchmal.«
    Sie stülpte den bunten Deckel auf den Zauberkasten, der nach fleißiger Benutzung an den Ecken schon eingerissen war.
    »Vielleicht solltest du dir ja einen Zauberkasten zum Geburtstag wünschen?«
    »Wie lange ist es bis dahin?«
    Mike schaute auf die Uhr.
    »Nicht in Stunden«, meinte Sanna.

    »Fünfzehn Tage«, antwortete Mike. »Auf der Uhr steht
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