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Endstation Kabul

Endstation Kabul

Titel: Endstation Kabul
Autoren: Achim Wohlgethan
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beirren ließ. Nun stand sie vor mir, sah mir in die Augen und fing an zu heulen wie ein Schlosshund. Ich stand völlig hilflos und perplex da und ließ mich von ihr umarmen. In diesem Moment wurde mir zum ersten Mal bewusst, in was für einer Anspannung die Angehörigen von Soldaten leben, wie gedankenlos ich meine Eltern mit ihrer Angst zurückgelassen hatte. Was man diesen nahen Menschen antut, damit hatte ich mich während meiner sechs Monate Kabul nicht eine Minute lang beschäftigt. Mir ging es so weit gut, warum sollte ich mir Gedanken über den Seelenzustand meiner Angehörigen daheim machen? Ich bin es doch, der im Einsatz ist, nicht du! So hatte ich immer gedacht. Ich kam mir unendlich schäbig und gemein vor.
    Wir verbrachten ein paar sehr schöne Tage zusammen. Dank der Kochkünste meiner Mutter nahm ich sogar etwas zu. Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr nach Deutschland fühlte ich mich nicht mehr schutzlos. Jeder neue Tag bei meinen Eltern war besser als der vorhergehende, ich entspannte mich mehr und mehr. Doch ich schämte mich auch. Schließlich war ich nach sechs Monaten ohne allzu viele Anrufe nun sehr plötzlich aufgetaucht, nach dem Motto: »Hoppla, hier bin ich!« Doch auch dieses Gefühl verging. Bei den endlos erscheinenden Gesprächen mit meinen Eltern, in denen ich immer mehr loslassen konnte, sagten sie immer nur verwundert und kopfschüttelnd: »Darüber haben wir nichts gehört. Hier wurde nur berichtet, dass das Camp weiter ausgebaut wird und es allen dort gut geht.« Ich wusste nicht, über wen ich mich mehr ärgern sollte: über die Presseoffiziere der Bundeswehr oder die deutschen Medien, die dieses substanzlose Blabla kritiklos verbreitet hatten.
    Nach einer Woche verabschiedete ich mich, da am Montag wieder mein Dienst begann. Das Zusammensein mit meinen Eltern hatte mir mehr Geborgenheit und Normalität vermittelt, als wenn ich es geschafft hätte, mir in dieser Zeit eine Wohnung zu suchen und sie einzurichten. Also fuhr ich mit meinen wenigen Habseligkeiten in die Kaserne nach Varel, wo ich meine neue Stube bezog und meinen Spind »baute«. Ohne dass ich mich bereits bei meinem Zugführer gemeldet hatte, wusste ich, was meine erste Tat im Dienst sein würde: Ich musste die noch fehlenden Fallschirmsprünge nachholen.
    Nun hatte sich vor geraumer Zeit ein schwerer Unfall in Altenstadt an der Luftlande-/Lufttransportschule ereignet. Ein Freifaller hatte vergeblich versucht, seinen Hauptschirm in 3000 Fuß Höhe (entspricht circa 1000 Metern) zu öffnen. Als er dann den Reserveschirm zog, zerriss der während des Öffnungsvorgangs, und er stürzte zu Tode. Daraufhin wurden alle Freifallschirme der Bundeswehr gesperrt. Es sollte erst mal geklärt werden, wie es zu diesem Unglück hatte kommen können. Damit ich trotzdem wie geplant meine Sprünge durchführen konnte, wurden zivile Schirme für mich organisiert. Auch die Maschine war eine zivile, eine Cessna. Am Tag meines ersten Sprungs seit acht Monaten regnete es junge Hunde. Nicht sehr angenehm zu springen. Die Wolken hingen dicht über der Erde, weshalb ich aus 1400 Metern Höhe abspringen musste. Alles in allem war es ein Misttag, der mir hätte gestohlen bleiben können. Um ein Haar wäre es bei mir ähnlich dumm gelaufen wie bei dem abgestürzten Soldaten. Ich war gerade zum dritten Mal mit inzwischen völlig durchnässtem Schirm aus der Cessna gesprungen, als ich merkte, dass sich eine Seite nicht richtig öffnete. Verdammt, das hatte ich drei Jahre zuvor schon mal so ähnlich erlebt und war um ein Haar am Tod vorbeigeschrammt. Damals hatte sich beim Öffnen das Fallschirmpaket um mein linkes Bein gewickelt und war nicht mehr richtig aufgegangen. So war ich aus 300 Metern mit nahezu ungeöffnetem Schirm zu Boden gerast. Doch ich hatte Glück im Unglück: Ich schlug in einer von insgesamt drei Birken ein, die auf dem Sprungplatz in Wunstorf standen. Ein Bänderriss im Knie, drei kaputte Rippen und eine gebrochene Hand waren das Ergebnis.
    Im Fallen versuchte ich, die bösen Erinnerungen an meinen damaligen Unfall zu verdrängen, und fing panisch an zu »pumpen«. Wie ein Wahnsinniger bewegte ich die beiden Steuerleinen schnell hoch und runter. So versuchte ich, Verdrehungen der Kappe oder der Fangleinen zu lösen, die den Schirm möglicherweise blockierten. Pappnass, wie er war, klebte der Schirm noch gefühlte Ewigkeiten weiter zusammen, während ich wie ein Stein weiter auf den Erdboden zusauste. Ich riss immer heftiger an
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