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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus
Autoren: Judith Lennox
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    Den Rest ihres Lebens haßte sie Schnee. Er begann vor Morgengrauen zu fallen, und um elf, als die Telegramme eintrafen, hatte er die vertraute Londoner Landschaft gebleicht.
    Vater und Mutter waren den ganzen Tag aus, es öffnete daher niemand die Telegramme. Sie blieben auf dem Tisch im Vestibül liegen: erschreckend, bedrohlich. Dennoch verlief Robins Tag wie immer. Am Vormittag Unterricht bei Miss Smith, Mittagessen und Mittagsschlaf und dann ein Nachmittagsspaziergang im Park. Als Robin abends um halb neun zu Bett ging, war sie gewiß, daß alles in Ordnung sei. Wie könnte das Leben seinen normalen Lauf nehmen, wenn Stevie oder Hugh etwas zugestoßen wäre?
    Später überlegte sie oft, was sie geweckt hatte. Es konnte nicht der Jammerschrei ihrer Mutter gewesen sein – das Haus war zu groß, zu solide gebaut, als daß ihr Schrei Robins Schlafzimmer hätte erreichen können. Jedoch plötzlich hellwach, kletterte sie aus dem Bett und schlich auf nackten Füßen in ihrem Nachthemd leise nach unten. Das Vestibül war leer, trübe erleuchtet von einer einzigen elektrischen Lampe.
    »Stevie – Hugh – alle beide …« Robin erkannte die Stimme ihrer Mutter kaum wieder.
    »Wir fahren gleich in aller Frühe ins Krankenhaus, Liebes.«
    »Meine Söhne – meine schönen Söhne!«
    Robin ließ die Klinke der Wohnzimmertür los. Sie ging durch den Flur zurück ins Eßzimmer und trat durch die breite Terrassentür ins Freie. Sie blieb nicht stehen; auf kleinen bloßen Füßen stapfte sie durch den Schnee bis zum Ende des Gartens.
    Zwischen den Rhododendren und den Überresten alter Gartenfeuer stehend, blickte sie zum Haus zurück. Es hatte endlich aufgehört zu schneien. Der Mond stand in unheilvollem Gelb-Orange an einem schwarzen Himmel. Das Haus, das Robin ihr siebenjähriges Leben lang kannte, hatte nichts Vertrautes mehr. Es hatte sich von Grund auf verändert, erblaßt im Schnee und von bronzefarbenem Licht umrissen. Sie spürte instinktiv, daß alles sich verändert hatte, daß der Winter durch Backstein und Ziegel ins Haus eingedrungen war und die Räume mit Frost überzogen hatte.
    Sie sagten ihr, daß zwar Stevie niemals aus Flandern heimkehren, Hugh jedoch nach Hause kommen würde, sobald es ihm gut genug ginge. Richard und Daisy Summerhayes reisten unverzüglich zu dem Feldlazarett ab, in dem Hugh um sein Leben kämpfte, und ließen Robin in der Obhut von Miss Smith. Später wurde Hughs langsame Genesung zum Maß der verstreichenden Zeit. Sie schwankten ständig zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Die dunkle Zeit unmittelbar nach dem Eintreffen der Telegramme; die Trauerfeier für Steven, die Robin als ein wirres Durcheinander von Blumen, Gesang und Tränen erlebte. Das hatte nichts zu tun mit Stevie, ihrem strahlenden und geliebten großen Bruder. Zuversicht, als Hugh die ersten Schritte machte und als er aus dem Lazarett nach Hause kam. Eine Wiederkehr der Dunkelheit nach seinem Zusammenbruch. Nach dieser zweiten Heimkehr änderte sich vieles: Das Haus wurde ordentlicher, weil Unordnung bei Hugh Angst und Widerwillen hervorrief. Richard Summerhayes gab seine politischen Ambitionen auf, und die Ziele, die er für seine Söhne gehabt hatte, wurden auf seine Tochter übertragen. Robin – nicht Steven, nicht Hugh – würde nach Cambridge gehen und Altphilologie studieren wie einst Richard. Der Strom von Gästen, die zum Londoner Haus der Summerhayes' zu pilgern pflegten – zu den Madrigal-Abenden, den Lyriklesungen, den politischen Diskussionen –, wurde eingedämmt, weil Hugh keinen Lärm vertrug. Richard kaufte ein Automobil, um seinen Sohn aus der Geborgenheit, in die er sich zu Hause vergrub, herauszulocken. Ihr lärmendes, fröhliches Leben gehörte der Vergangenheit an, wurde zurückgezogen und still.
    Dennoch wurde Hugh nicht richtig gesund. Sein Arzt erklärte Richard und Daisy mit Nachdruck, daß ihr Sohn vor allem Frieden und Ruhe brauche. Richard Summerhayes begann, sich nach einer anderen Stellung umzusehen, und bekam schließlich das Angebot, die Leitung der humanistischen Abteilung einer Knabenschule in Cambridge zu übernehmen. Obwohl es eine Einkommenseinbuße mit sich brachte, nahm er das Angebot an, weil er die Stille und Weite der Fens selbst erlebt hatte.
    Die gepflügten Felder waren schwarze, konturlose Rechtecke. Graue Schatten lagen wie Schmutz auf Dämmen und Wegen. An den geschützten Abhängen und in Furchen hielt sich noch Reif, und die Sonne war, wenn sie an diesem Tag
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