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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Autoren: Richard Yates
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men, daß sie mich in ihrem Wagen mitnehmen. In so 'nem Buick. Mein Vater sagt: Vinny, Lust auf 'nen kleinen Ausflug? Ich sag': Klar, wo soll's'n hin? Da sagt er: Wo de willst. Und da sag' ich: Kutschiern wir einfach 'n Stück durch die Gegend, fahrn auf irgend'ne große Straße und machen uns 'nen schönen Tag. Und da kutschiern wir dann los – also bestimmt achtzig bis hundert Kilo- meter – und fahrn so aufm Highway, und auf einmal hängt uns 'n Bulle hintendran. Mein Vater sagt: Keine Angst, den schütteln wir ab, und drückt voll auf die Tube. Meine Mutter kriegt ganz schön die Muffe, aber mein Vater sagt: Keine Angst, Schatz. Er will nämlich abbie- gen, daß er vom Highway runterkommt und den Bullen abhängt. Aber grad wie er abbiegt, da legt der Bulle auf einmal los und fängt an zu schießen.«
     Die paar Mitschüler, die es über sich brachten, ihn anzuschauen, hatten inzwischen den Kopf zur Seite ge- neigt und fixierten ihn mit halboffenem Mund, etwa so, wie man einen gebrochenen Arm oder einen Zirkusclown anstarrt.
     »Wir haben's grad noch geschafft«, fuhr Vincent mit schimmernden Augen fort, »bloß die eine Kugel hat mein'n Vater an der Schulter erwischt. Hat ihm nich groß weh getan – war nämlich nur 'n Streifschuß –, und meine Mutter hat ihm dann 'nen Verband drumgemacht und so, aber mit dem Fahren war's halt erst mal aus, und wir haben ihn zu 'nem Arzt bringen müssen. Und da sagt mein Vater: Vinny, meinste, du kannst 'n Stück fahren? Ich sag': Klar, wenn de mir zeigst, wie. Und da zeigt er mir, wie man aufs Gas drückt und auf die Bremse und so, und da bin ich dann zum Arzt kutschiert. Meine Mut- ter sagt: Bin richtig stolz auf dich, Vinny, bist ganz allein gefahren. Jedenfalls, wir sind dann zum Arzt, und dort is' mein Vater versorgt worden und so, und dann is' er mit uns wieder nach Haus gefahrn.« Er war außer Atem. Nach einer unbehaglichen Pause sagte er: »Und das war alles.« Dann ging er rasch zu seinem Platz zurück; der steife Stoff seiner neuen Cordhose erzeugte bei jedem Schritt einen leisen Pfeifton.
     »Na, das war ja sehr ... sehr unterhaltsam, Vincent«, sagte Miss Price; sie versuchte so zu tun, als wäre über- haupt nichts geschehen. »Schön, wer möchte als näch- ster?« Niemand meldete sich.
     An diesem Tag gestaltete sich die große Pause für ihn noch schlimmer als sonst; zumindest war dies so, bis er einen Ort gefunden hatte, wo er sich verbergen konnte – einen schmalen, lediglich mit ein paar Notausgängen versehenen Betonkorridor, der zwischen zwei Gebäude- teilen der Schule hindurchführte. Es war dort beruhigend düster und kühl – er blieb, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, stehen und beobachtete den Eingang; der Pau- senlärm war so weit weg wie der Sonnenschein. Aber als es schließlich läutete, mußte er wieder zurück in die Klasse; eine Stunde später war Mittagspause.
     Miss Price ließ ihn allein, bis sie ihre Mahlzeit beendet hatte. Dann verharrte sie, die Hand am Türgriff, eine volle Minute vor dem Klassenzimmer und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Schließlich trat sie ein und setzte sich zu einem weiteren kleinen Gespräch neben ihn; er war gerade dabei, den Rest eines mit Paprikakäse belegten Sandwiches hinunterzuschlucken.
     »Vincent«, begann sie, »dein Erlebnisbericht heute mor- gen hat uns allen gefallen, aber ich glaube, es hätte uns noch besser – viel besser – gefallen, wenn du uns statt dessen etwas aus deinem wirklichen Leben erzählt hät- test. Ich meine«, fuhr sie rasch fort, »mir ist zum Beispiel aufgefallen, daß du heute morgen eine hübsche neue Windjacke angehabt hast. Die ist doch neu, oder? Hat sie dir deine Tante am Wochenende gekauft?«
     Er bestritt es nicht.
     »Na, dann hättest du uns doch erzählen können, wie
    du mit deiner Tante in das Geschäft gegangen bist, um die Jacke zu kaufen, und was du dann hinterher so alles gemacht hast. Das wäre ein richtig guter Erlebnisbericht geworden.« Sie hielt einen Moment inne und sah ihm zum erstenmal unverwandt in die Augen. »Du verstehst doch, was ich damit sagen will, Vincent, oder?«
     Er wischte sich ein paar Brotkrümel von den Lippen, blickte zu Boden und nickte.
     »Und du denkst das nächste Mal dran, ja?«
     Er nickte erneut. »Darf ich mal bitte kurz raus, Miss
    Price?«
     »Natürlich.«
     Er ging auf die Knabentoiiette und übergab sich. Dann
    wusch er sich das Gesicht, trank einen Schluck Wasser und kehrte ins Klassenzimmer zurück.
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