Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Autoren: Richard Yates
Vom Netzwerk:
fort. »Es geht da um so 'nen Typ, der ... «
     »Um einen Mann, der«, korrigierte Miss Price.
     »Um einen Mann, der irgend so was Chemisches zu-
    sammenmixt und das Zeug dann trinkt. Und jedesmal wenn er's trinkt, verwandelt er sich in ein richtiges Unge- heuer. Du siehst erst, wie er das Zeug trinkt, und dann, wie seine Hände auf einmal ganz schuppig werden, als war' er ein Reptil oder so, und dann, wie sich sein Gesicht in ein richtiges Gruselgesicht verwandelt – mit Fangzäh- nen und so. Die direkt aus dem Mund rausragen.«
     Die Mädchen schüttelten sich vor Vergnügen. »Tja«, sagte Miss Price, »ich glaube, es war wohl doch klug von Nancys Bruder, daß er sie das nicht sehen lassen wollte. Und was hast du dann nach dem Film getan, Warren?«
     Ein enttäuschtes »Oooch!« ging durch die Klasse – jeder
    wollte noch mehr über die Schuppen und Fangzähne
    hören –, aber Miss Price hatte es gar nicht gern, wenn die Erlebnisberichte in Nacherzählungen von Filmen ausarteten. Ohne große Begeisterung fuhr Warren fort, nach dem Film hätten sie bloß noch bei Bill Stringer im Hof herumgealbert, bis zur Abendbrotzeit. »Und am Sonntag«, sagte er, wieder munterer, »ist Bill Stringer zu mir gekommen, und mein Dad hat uns geholfen, 'nen alten Reifen auf ein langes Seil zu ziehen. Das Seil hängt an 'nem Baum. Hinter unserm Haus ist doch so ein steiler Abhang – wie 'ne Schlucht –, und wir montieren also den Reifen ans Seil, und dann hältst du dich dran fest, läufst ein kurzes Stück, hebst irgendwann die Füße hoch, und schon rauschst du über die ganze Schlucht und wieder zurück.«
     »Das hört sich ja toll an«, sagte Miss Price und warf einen Blick auf ihre Uhr.
     »Und ob das toll ist«, bestätigte Warren. Aber dann fügte er, sich wieder die Hose zurechtrückend, mit gerun- zelter Stirn hinzu: »Klar, ist auch ganz schön gefährlich. Wenn du den Reifen losläßt oder so, dann stürzt du übel ab. Brauchst bloß auf 'nen Stein oder so was zu knallen, und schon hast du dir's Bein oder's Rückgrat gebrochen. Aber mein Dad hat gemeint, er vertraut darauf, daß wir gut auf uns aufpassen.«
     »Na schön, Warren, ich fürchte, mehr Zeit haben wir dafür nicht«, sagte Miss Price. »Für einen Erlebnisbericht reicht's gerade noch. Wer möchte? Arthur Cross?«
     Ein leises Stöhnen ertönte, denn Arthur Cross galt als der größte Langweiler der Klasse, und seine Erlebnis- berichte waren immer zum Einschlafen. Diesmal handel- te es sich um die dröge Schilderung eines Besuches bei seinem Onkel auf Long Island. An irgendeiner Stelle unterlief ihm ein Versprecher – er sagte »Botormoot« statt »Motorboot« –, worauf alle lachten, mit jenem spöt- tischen Unterton, den sie sich eigens für Arthur Cross vorbehielten. Doch das Gelächter erstarb jäh, als sich ein rauhes, trockenes Krächzen aus der hinteren Reihe hin- einmischte. Vincent Sabella lachte ebenfalls, so daß die gelben Zähne deutlich zu sehen waren; alles starrte ihn an, bis er schließlich verstummte.
     Als die Erlebnisberichte beendet waren, begann der Unterricht. An Vincent Sabella dachten die Kinder eigent- lich erst wieder in der großen Pause, und da auch nur insofern, als sie darauf achteten, ihn von allem auszu- schließen. Er befand sich weder unter den Jungen, die sich um eine Reckstange scharten und der Reihe nach einen Felgaufschwung vollführten, noch stand er bei de- nen, die in der hinteren Ecke des Pausenhofs flüsternd den Plan ausheckten, Nancy Parker auf den Boden zu schubsen. Genausowenig gehörte er zu denen, die – eine größere Gruppe, darunter sogar Arthur Cross – einander im Kreis hinterherjagten, eine stürmische Variante des Fangspiels. Zu den Mädchen konnte er sich natürlich nicht stellen, auch nicht zu den Jungen aus den anderen Klassen, und so stellte er sich eben zu keinem. Er verharrte am Rand des Pausenhofs, direkt vor dem Schulgebäude, und tat zunächst so, als sei er vollauf mit den Schnür- senkeln seiner Turnschuhe beschäftigt. Er kauerte sich auf den Boden, band die Schnürsenkel auf und zu, rich- tete sich auf und machte wie zur Probe ein paar federnde, leichtfüßige Schritte; dann ging er wieder in die Hocke und hantierte erneut an den Schnürsenkeln herum. Nach fünf Minuten brach er die Sache ab, hob eine Handvoll Kiesel auf und begann sie auf ein unsichtbares, mehrere Meter entferntes Ziel zu werfen. Damit verbrachte er aber- mals fünf Minuten, aber noch blieben weitere fünf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher