Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Autoren: Richard Yates
Vom Netzwerk:
vielleicht nie übernehmen dürfen. Vielleicht verlangte die ganze Sache nach einem Spezialisten. Sie holte tief Luft.
     »Komm doch mal her und setz dich neben mich, Vin- cent«, sagte sie; als er Platz genommen hatte, blickte sie ihm ins Gesicht. »Ich möchte, daß du mir die Wahrheit sagst. Hast du diese Wörter draußen an die Wand ge- schrieben?«
     Er starrte zu Boden.
     »Schau mich an«, sagte sie; er schaute sie an. Sie hatte noch nie so hübsch ausgesehen: die Wangen waren leicht gerötet, die Augen leuchteten, und ihr lieblicher Mund hatte sich zu einem Ausdruck verlegenen Mißfallens ver- zogen. »Zunächst einmal«, sagte sie und reichte ihm eine kleine, mit Plakatfarbe verschmierte Emailschüssel, »möchte ich, daß du mit dieser Schüssel zur Knabentoi- lette gehst und sie mit warmem Wasser und Seife füllst.«
     Er kam der Aufforderung nach; als er, die Schüssel sorg- sam so haltend, daß das Seifenwasser nicht überschwapp- te, wieder zurückkehrte, kramte sie aus der unteren Pult- schublade ein paar alte Lappen hervor. »Hier«, sagte sie, wählte einen der Lappen aus und schob die Schublade sachlich zu. »Damit wird's gehen. Den machst du naß.« Sie führte ihn zum Notausgang, stellte sich in den Durch- gang und sah ihm schweigend zu, wie er die Wörter abwusch.
     Als er die Aufgabe erledigt hatte und Lappen und Schüssel weggeräumt waren, setzten sich die beiden wie- der an Miss Prices Pult. »Du glaubst jetzt bestimmt, ich bin dir böse, Vincent«, sagte sie. »Nein, bin ich nicht. Ich wünschte fast, ich wäre es – das würde das Ganze viel einfacher machen –, aber ich bin einfach nur verletzt. Ich wollte ein guter Freund für dich sein, und ich glaube, du wolltest auch mein Freund sein. Aber so etwas ... also es fällt schon sehr schwer, mit jemand gut Freund zu sein, der so etwas tut.«
     Dankbar sah sie, daß er Tränen in den Augen hatte. »Vincent, vielleicht verstehe ich ein paar Dinge besser, als du denkst. Vielleicht verstehe ich auch, daß jemand, der so etwas tut, es manchmal gar nicht deswegen tut, weil er einen anderen damit verletzen will, sondern weil er unglücklich ist. Er weiß, daß er was Schlimmes tut, und er weiß auch, daß er hinterher nicht glücklicher ist, aber er tut es trotzdem. Und wenn er dann merkt, daß er einen Freund verloren hat, ist er furchtbar traurig, aber dann ist es schon zu spät. Getan ist getan.«
     Sie ließ diese ernste Bemerkung kurz in der Stille des Zimmers widerhallen, dann sprach sie weiter. »Ich kann das nicht einfach vergessen, Vincent. Aber vielleicht kön- nen wir trotzdem Freunde bleiben, bloß dieses eine Mal – solange ich davon ausgehen kann, daß du mich nicht verletzen wolltest. Du mußt mir allerdings versprechen, daß du es ebenfalls nicht vergißt. Denk immer daran: Wenn du so etwas tust, dann verletzt du diejenigen, die sehr gern deine Freunde wären, und damit verletzt du dich selbst. Versprichst du mir, daß du immer daran den- ken wirst, Engelchen?«
     Das »Engelchen« kam so unwillkürlich wie die schlanke Hand, die sich auf die Schulter seines Pullis legte; beides sorgte dafür, daß er den Kopf noch tiefer hangen ließ.
     »Gut«, sagte sie. »Jetzt darfst du gehen.«
     Er holte seine Windjacke aus der Garderobe und ver- ließ, ihren müden unsicheren Blick meidend, den Raum. Die Gänge waren verwaist, und bis auf das dumpfe Klop- fen eines Mops, den der Hausmeister immer wieder gegen eine ferne Wand schob, herrschte Stille. Vincents Schritte auf den Gummisohlen gesellten sich zu der Stille ebenso wie das einsame leise Geräusch, das ertönte, als er den Reißverschluß seiner Jacke hochzog, und das sanfte Seuf- zen der mächtigen, automatischen Eingangstür. In dieser Stille war der Schreck um so größer, als er – er hatte be- reits ein paar Meter auf dem betonierten Fußweg zurück- gelegt – auf einmal merkte, daß zwei Jungen neben ihm gingen: Warren Berg und Bill Stringer. Die beiden lächel- ten ihn erwartungsvoll, beinahe freundlich an.
     »Und, was hat sie mit dir gemacht?« fragte Bill Stringer.
     Total überrumpelt, hätte es Vincent fast nicht recht- zeitig geschafft, sein Edward-G.-Robinson-Gesicht aufzu- setzen. »Geht euch nix an«, sagte er und ging schneller.
     »Nein ... hey, jetzt wart doch mal«, sagte Warren Berg; die beiden fielen in Trab, um mit ihm Schritt zu halten. »Was hat sie denn nun gemacht? Hat sie dich zusammen- geschissen, oder was? Hey, jetzt warte doch mal,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher