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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Autoren: Richard Yates
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nicht und frag einfach nach.«
     Er ließ ein undeutliches Krächzen hören und setzte ein flüchtiges Lächeln auf – gerade lange genug, um zu zei- gen, daß er gelbe Zähne hatte.
     »Also dann«, sagte Miss Price und ging zur Tagesord- nung über. »Wir haben Montagmorgen, und als erstes ste- hen die Erlebnisberichte auf dem Programm. Wer möchte anfangen?«
     Sechs oder sieben Hände gingen hoch, Vincent Sabella war vorerst vergessen; Miss Price zuckte in gespielter Ver- wirrung zurück. »Du liebe Güte, heute haben wir aber viele Erlebnisberichte«, sagte sie. Die Idee zu diesen Be- richten – eine fünfzehnminütige Veranstaltung, bei der die Kinder an jedem Montag ihre Wochenenderlebnisse schildern sollten – stammte von ihr, und sie war ver- ständlicherweise stolz darauf. Auf der letzten Lehrerkon- ferenz hatte der Schulleiter sie dafür gelobt und betont, daß dies einen großartigen Brückenschlag zwischen den Welten der Schule und des Zuhauses darstelle und dar- über hinaus eine vorzügliche Methode sei, den Kindern Selbstvertrauen und sicheres Auftreten beizubringen. Das Ganze verlange umsichtige Kontrolle – die Schüchternen müßten aus der Reserve gelockt, die Vorlauten gebremst werden –, aber im allgemeinen, so Miss Price gegenüber dem Schulleiter, hätten alle Spaß daran. Besonders heute hoffte sie, daß es Spaß machen würde, schon um Vincent Sabella die Befangenheit zu nehmen, und deswegen rief sie Nancy Parker als erste auf; niemand konnte so wie Nancy die Zuhörer in Bann halten.
     Die Mitschüler verstummten, als Nancy anmutig nach vorne trat; auch die zwei oder drei Mädchen, die sie ins- geheim verachteten, mußten, wenn sie ihren Erlebnis- bericht vortrug, Entzücken vortäuschen (so beliebt war sie), und den Jungen, deren größtes Vergnügen darin be- stand, sie auf dem Pausenhof unter Gekreisch auf den Boden zu schubsen, blieb nichts weiter übrig, als sie mit albern zaghaftem Lächeln anzublicken.
     »Also ...«, fing sie an und schlug sich gleich darauf die Hand vor den Mund; die ganze Klasse lachte.
    »Aber Nancy«, sagte Miss Price. »Du kennst doch die Regel mit dem Also, wenn man mit einem Erlebnis- bericht beginnt.«

     Nancy kannte die Regel; sie hatte sie nur verletzt, um die Lacher einzuheimsen. Sie unterdrückte ein Kichern, strich mit den zarten Zeigefingern über die Seitennähte ihres Rocks und begann, diesmal richtig, von vorn. »Am Freitag hat meine ganze Familie einen Ausflug im neuen Wagen von meinem Bruder gemacht. Mein Bruder hat sich letzte Woche einen neuen Pontiac gekauft, und er wollte uns alle auf eine Fahrt mitnehmen – um den Wa- gen mal auszuprobieren und so. Wir sind in die Innen- stadt von White Plains gefahren und haben dort in einer Wirtschaft zu Abend gegessen, und hinterher wollten wir alle ins Kino, in Dr. Jekyll und Mr. Hyde, aber mein Bruder hat gesagt, der Film war' zu gruslig und so, und ich war' noch zu jung dafür – oh, war ich vielleicht sauer auf ihn! Und sonst, Moment. Am Samstag war ich den ganzen Tag zu Hause und hab meiner Mutter geholfen, das Braut- kleid für meine Schwester zu nähen. Meine Schwester ist nämlich verlobt, und meine Mutter näht das Braut- kleid für sie. Das war am Samstag, und am Sonntag ist ein Freund von meinem Bruder zum Abendessen gekom- men, und später am Abend mußten die zwei zum Col- lege zurück, und ich hab' lang aufbleiben und mich von ihnen verabschieden dürfen und so, und ich glaub', das war alles.« Nancy hatte immer ein sicheres Gespür dafür, wie man sich kurzfaßt – oder vielmehr, wie man das Ganze kürzer erscheinen läßt, als es tatsächlich gewesen war.
    »Sehr gut, Nancy«, sagte Miss Price. »Wer ist der näch-
    ste?«
     Der nächste war Warren Berg; er schritt nach vorne und rückte sich dabei sorgfältig die Hose zurecht. »Am Samstag bin ich zum Mittagessen rüber zu Bill Stringer«, begann er in seinem unverblümten Von-Mann-zu-Mann- Stil; in der vorderen Reihe rutschte Bill Stringer vor Ver- legenheit hin und her. Berg und Bill Stringer waren dicke Freunde, und ihre Erlebnisberichte überschnitten sich oft. »Nach dem Essen sind wir mit dem Rad in die Innen- stadt von White Plains gefahren. Bloß daß wir dann Dr. Jekyll und Mr. Hyde gesehn haben.« An dieser Stelle nickte er in Richtung Nancy, die, als sie einen leisen, nei- dischen Seufzer hören ließ, erneut ein paar Lacher ein- heimste. »Der Film war übrigens echt gut«, fuhr er mit wachsender Begeisterung
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