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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Autoren: Richard Yates
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Miss Price war inzwischen an ihrem Pult beschäftigt und blickte nicht auf. Um sich nicht noch einmal mit ihr einlassen zu müs- sen, schlenderte er hinaus in die Garderobe und setzte sich auf eine der langen Bänke, wo er einen liegengeblie- benen Überschuh aufhob und in den Händen hin und her drehte. Kurz darauf hörte er das Geplapper zurück- kehrender Kinder; um nicht in der Garderobe entdeckt zu werden, stand er auf und ging zum Notausgang. Als er die Tür aufschob, stellte er fest, daß sie in den Durchgang führte, wo er sich heute morgen versteckt hatte, und schlüpfte nach draußen. Einen Augenblick stand er ein- fach da und betrachtete die blanke Betonmauer; dann fand er in der Hosentasche ein Stück Kreide und schrieb alle unflätigen Ausdrücke, die ihm gerade einfielen, in dreißig Zentimeter großen Blockbuchstaben an die Wand. Er hatte bereits vier Wörter geschrieben und versuchte sich an ein fünftes zu erinnern, da hörte er hinter sich an der Tür ein Schlurfen. Arthur Cross stand da, hielt die Tür auf und las mit großen Augen, was er an die Mauer gekritzelt hatte. »Mann«, sagte Arthur mit ehrfürchtigem Flüstern. »Mann, dafür kriegen sie dich dran. Dafür krie- gen sie dich echt dran.«
     Erschrocken, aber dann plötzlich vollkommen ruhig ließ Vincent Sabella die Kreide in der Hand verschwin- den, hakte die Daumen unter den Gürtel und wandte sich Arthur mit drohendem Blick zu. »Ah ja?« sagte er. »Wer will mich denn verpetzen?«
     »Also verpetzen will dich keiner«, sagte Arthur Cross beklommen, »aber es war' besser für dich, wenn du nicht solche Wörter..."
     »Alles klar«, sagte Vincent und trat einen Schritt vor. Seine Augen waren schmale Schlitze, er hatte die Schul- tern eingezogen und den Kopf vorgeschoben, wie Ed- ward G. Robinson. »Alles klar. Mehr will'ch nich' wissen. Kann nämlich Petzer nich' leiden, kapiert?«
     Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da erschienen Warren Berg und Bill Stringer an der Tür – gerade recht- zeitig, um das, was er sagte, noch mitzubekommen und die Wörter an der Mauer zu sehen; Vincent wandte sich ihnen zu. »Und das gilt auch für euch, kapiert?« sagte er. »Alle beide.«
     Das Erstaunliche war, daß sich die Gesichter der beiden zu dem gleichen albernen, beschwichtigenden Lächeln verzogen, das auch Arthur Cross aufsetzte. Erst als sie ein- ander kurz angesehen hatten, waren sie imstande, Vin- cents Blick mit dem gebührenden Maß an Verachtung zu erwidern, aber da war es bereits zu spät. »Hältst dich wohl für ganz schön schlau, Sabella, eh?« sagte Bill Stringer.
     »Kann dir doch egal sein, was ich find'«, erklärte Vin- cent. »Du hast gehört, was ich gesagt hab'. Und jetzt gehn wir wieder rein.«
     Den anderen blieb nichts weiter übrig, als zur Seite zu treten, ihm den Weg frei zu machen und ihm völlig ver- blüfft in die Garderobe zu folgen.
     Nancy Parker war es, die petzte – obwohl man es bei jemandem wie Nancy Parker natürlich nicht unbedingt als Petzen bezeichnen konnte. Sie hatte von der Gardero- be aus alles mitgehört; sobald die Jungen hereinkamen, warf sie einen verstohlenen Blick in den Durchgang, sah die Wörter an der Mauer, setzte ein strenges Stirnrunzeln auf und begab sich unverzüglich zu Miss Price. Miss Price war gerade dabei, die Klasse für den Nachmittag zur Ord- nung zu rufen, als Nancy auf sie zutrat und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Die beiden verschwanden in der Garderobe - von wo kurz darauf das Zuschlagen der Notausgangstür ertönte –, und als sie in die Klasse zurückkehrten, war Nancy vor lauter Gerechtigkeitssinn rot im Gesicht, Miss Price hingegen leichenblaß. Der Vorfall fand keine Er- wähnung. Der Unterricht nahm den ganzen Nachmittag über seinen gewöhnlichen Verlauf, aber es ließ sich nicht übersehen, daß Miss Price außer sich war, und erst als sie die Kinder um fünfzehn Uhr entließ, brachte sie die Sache zur Sprache. »Vincent Sabella bleibt bitte noch auf seinem Platz.« Sie nickte den übrigen Schülern zu. «Das war's für heute.«
     Während das Klassenzimmer sich leerte, setzte sie sich ans Pult, schloß die Augen, massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den schmalen Nasenrücken und ver- suchte sich Einzelheiten eines Buches über schwer ver- haltensgestörte Kinder ins Gedächtnis zu rufen, das sie irgendwann einmal gelesen und an das sie nur noch vage Erinnerungen hatte. Alles in allem hätte sie die Verant- wortung für Vincent Sabellas Einsamkeit
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