Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leuchtfeuer Der Liebe

Leuchtfeuer Der Liebe

Titel: Leuchtfeuer Der Liebe
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
1. KAPITEL
     
    Washington Territory, 1876
     
    Am Sonntag wurde etwas an Land gespült.
    Der Morgen dämmerte herauf wie alle anderen - tief hängender, kalter Nebel verhüllte die fahle Sonne, die bleigraue Dünung rollte von weit draußen heran, schwoll an und nahm an Kraft zu, um tosend gegen die gezackten Felsen von Cape Disappointment zu branden. Die höher steigende Sonne glich einem entzündeten Furunkel, als sie durch Wolken und Nebel brach.
    Jesse Morgan beobachtete fasziniert den Sonnenaufgang vom schmalen Eisensteg des Leuchtturms, den er hinaufgeklettert war, um die Walöllampen zu löschen und seinen Arbeitstag mit dem Stutzen der Dochte und dem Säubern der Glaslinsen zu beginnen.
    Doch dann fiel ihm etwas unten am Strand auf.
    Er wusste nicht genau, warum er in die Tiefe spähte. Vermutlich hatte er es immer getan, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wenn er zu lange in die bleigrauen Wogen blickte, deren weiße Gischt den hellen Sand bedeckte oder tosend gegen die Felsen brach, bestand die Gefahr, dass er sich daran erinnerte, was die See ihm weggenommen hatte.
    Für gewöhnlich achtete er nicht darauf. Dachte nicht. Fühlte nicht.
    Heute aber spürte er eine Unruhe in der Luft, als hauche ihm ein unsichtbarer Fremder seinen Atem in den Nacken.
    Ohne auch nur kurz zu überlegen, stellte er die Leinölflas c he ab, legte das Poliertuch daneben und trat in den bitterkalten Wind auf die Plattform.
    Eine seltsame Macht zwang ihn, sich mit einer Hand an der Eisenreling festzuhalten, sich weit vorzubeugen, um über die Landspitze und die Felsenklippen auf den sturmgepeitschten Küstenstreifen zu schauen.
    Ein Klumpen Seetang. Stränge gelbbrauner Algen hüllten eine längliche Form ein. Vermutlich nur ein Haufen ineinander verschlungener Meerespflanzen, vielleicht auch ein verendeter Seehund, ein altes Tier, dessen Bartborsten weiß und Zähne braun geworden waren.
    Tiere waren vernünftiger als Menschen, sie zogen ihr Leben nicht unnötig in die Länge.
    Während Jesse auf das angespülte Treibgut starrte, spürte er ... etwas Eigenartiges. Als drehe sich ein stumpfes Messer in seiner Brust. Es war kein Schmerz. Auch keine Neugier.
    Unausweichliches Schicksal.
    Noch während ihm dieser befremdliche Gedanke durch den Sinn schoss, polterte er mit schweren Stiefelschritten die gewundene Eisenstiege des Leuchtturms nach unten und stürmte den felsigen Pfad entlang.
    Er kannte jeden Stein zum einsamen Strand, hatte den Weg wohl tausendmal zurückgelegt.
    Was ihn verwunderte, war seine Hast.
    Jesse Morgan hatte seit vielen Jahren keine Eile gehabt.
    Nun aber rannte er keuchend, jeden Muskel angespannt. Sobald er aber den Haufen Seetang erreichte, blieb er stehen. Stocksteif und angstvoll.
    Jesse Morgan hatte seit langer Zeit Angst, obwohl ihm das kein Mensch angesehen hätte.
    Die Leute in Ilwaco, zweitausend Einwohner, die das ganze Jahr hier lebten, und etwa tausend Urlauber, die im Sommer die Gegend bevölkerten, hielten Jesse Morgan für rau und unbeugsam wie die Felsklippen, über die er in seinem Leuchtturm wachte.
    Er galt als stark und furchtlos und ließ niemand hinter seine versteinerte Maske blicken.
    Er war erst vierunddreißig und fühlte sich wie ein alter Mann.
    Nun stand er allein am Strand, gelähmt vor Angst, ohne zu wissen, warum. Bis er etwas zu seinen Füßen unter dem Haufen Seetang zu entdecken glaubte.
    Barmherziger Gott. Er fiel auf die Knie, die Nässe des Sandes drang kalt durch seine Hose. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte, war unschlüssig, ob er den Schleier des Geheimnisses überhaupt lüften sollte.
    Die Algenstränge fühlten sich unangenehm schwammig und kalt an, klebten unnachgiebig an ... Woran?
    Seine Hände ertasteten geschliffenes Holz. Gehobelt, geglättet, lackiert. Das Wrackteil eines Schiffes. Ein Stück von einem Mast oder vom Bugspriet, mit Tau umwickelt, dessen lose Enden mit Pech bestrichen waren.
    Hör auf, befahl er sich, ahnte bereits, was er finden würde. Das alte Grauen, nach all den Jahren brennend wie am ersten Tag, packte ihn.
    Hör sofort auf damit. Er könnte aufstehen, die Klippen hinaufsteigen, durch den Wald laufen und Palina und Magnus wecken, könnte sie an den Strand schicken, um das Treibgut zu untersuchen.
    Stattdessen zerrte er mit fahrigen Händen an den glitschigen Tangsträngen, grub tiefer, legte ein weiteres Stück des Mastes frei, fand das abgesplitterte Ende ...
    Einen Fuß. Nackt. Kalt wie Eis. Und Zehennägel wie winzige
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher