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Blausäure

Blausäure

Titel: Blausäure
Autoren: Agatha Christie
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Eins
    Iris Marle
     
    I
     
    I ris Marie dachte über ihre Schwester Rosemary nach.
    Fast ein Jahr lang hatte sie versucht, Rosemary aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Sie hatte sich nicht erinnern wollen.
    Es war zu schmerzlich – zu grauenvoll!
    Rosemarys blau angelaufenes Gesicht, die gekrümmten Finger, die nach ihr gegriffen hatten…
    Der Gegensatz zwischen dieser und der heiteren, anmutigen Rosemary vom Tag zuvor!
    Na ja, heiter war sie vielleicht nicht gerade gewesen. Sie hatte damals eine Grippe hinter sich, war am Ende ihrer Kräfte, depressiv…
    All das war bei den Ermittlungen auf den Tisch gekommen. Sie selbst war es gewesen, die darauf hingewiesen hatte. Gab es etwa kein Motiv für Rosemarys Selbstmord ab?
    Sobald die Untersuchungen beendet waren, hatte sich Iris bewusst bemüht, die Sache aus ihrem Kopf zu verbannen. Was brachte es, sich zu erinnern? Am besten, sie vergaß diese ganze schreckliche Angelegenheit!
    Jetzt aber erkannte sie, dass sie sich erinnern musste. Sich in die Vergangenheit zurückversetzen musste… Dass es jedes noch so unscheinbare Detail zu vergegenwärtigen galt…
    Dieses befremdliche Gespräch gestern Abend mit George machte es absolut notwendig. Es war so unerwartet gekommen, hatte ihr Angst eingejagt.
    Moment mal – kam es wirklich so überraschend? Hatte es nicht doch schon vorher Anzeichen gegeben? Georges zunehmende Unkonzentriertheit, seine Geistesabwesenheit, seine Unberechenbarkeit – seine – nun ja, Seltsamkeit! So musste man es wohl nennen! Alles hatte zu dem Moment gestern Abend geführt, als er sie zu sich in die Bibliothek bat und die Briefe aus der Schreibtischlade nahm.
    Und jetzt gab es kein Zurück. Sie musste über Rosemary nachdenken – musste sich erinnern.
    Rosemary – ihre Schwester…
    Es kam über sie wie ein Schock: Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie über Rosemary nachdachte. Das heißt, objektiv über sie nachdachte, wie über eine fremde Person.
    Iris hatte Rosemary immer hingenommen, ohne sich Gedanken zu machen. Man dachte schließlich nicht über Mutter und Vater, Schwester oder Tante nach. Die existierten nun einmal, wurden nicht hinterfragt – Verwandtschaft halt.
    Man sah sie nicht als Menschen. Grübelte doch nicht, wer sie in Wirklichkeit waren!
    Was für ein Mensch war Rosemary gewesen?
    Das konnte jetzt äußerst wichtig sein. So vieles konnte davon abhängen.
    Iris versetzte sich in die Vergangenheit zurück. Sah sich und Rosemary als Kinder…
    Rosemary war sechs Jahre älter gewesen.
    Bruchstücke der Vergangenheit kamen zurück – kurze Rückblenden – kleine Szenen. Wie sie selbst als kleines Kind ihr Brot in die Milch tunkte, während Rosemary am Tisch saß und Schularbeiten machte und sich wichtig vorkam, mit ihren langen Zöpfen…
    Sommerferien am Meer – wie sie Rosemary beneidet hatte, die schon ein großes Mädchen war und schwimmen konnte!
    Rosemary, die im Internat war – und in den Ferien heimkam. Dann ging sie selbst zur Schule – da erhielt Rosemary den letzten Schliff in Paris. Das Schulmädchen Rosemary war plump und bestand nur aus Armen und Beinen. Aber aus Paris kehrte eine anmutige junge Dame heim, die fremd und Furcht erregend war in ihrer neuen Eleganz. Sie sprach mit weicher Stimme, bewegte graziös ihren sanft gerundeten Körper. Ihr Kastanienhaar glänzte rotgolden, und ihre großen, dunkelblauen Augen waren schwarz umrandet… Ein verstörend schönes Geschöpf – erwachsen – von einem anderen Stern!
    In der Folgezeit hatten sie einander sehr wenig gesehen; der Altersabstand von sechs Jahren erschien groß wie nie.
    Während Iris noch im Internat war, genoss Rosemary die «Saison» in vollen Zügen. Und sogar wenn Iris nach Hause kam, lebten sie in zwei verschiedenen Welten. Rosemary schlief bis in die Puppen, traf sich dann zum Lunch mit anderen Debütantinnen und ging fast jeden Abend tanzen. Dann hatte Iris ihre Zeit mit dem Fräulein im Schulzimmer verbracht, war im Park spazieren gegangen, hatte um neun Uhr zu Abend gegessen und sich um zehn schlafen gelegt. Der Kontakt zwischen den Schwestern beschränkte sich auf kurze Zurufe wie:
    «He, Iris, sei so lieb und ruf mir ein Taxi, ich bin schrecklich spät dran.»
    Oder: «Ich finde, das neue Kleid steht dir nicht, Rosemary! Es ist so – aufgetakelt!»
    Schließlich hatte sich Rosemary mit George Barton verlobt. Aufregung, Einkäufe, Berge von Paketen, Kleider für die Brautjungfern…
    Die Hochzeit. Sie war hinter Rosemary zum
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