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Nachtbrenner

Nachtbrenner

Titel: Nachtbrenner
Autoren: Myra Çakan
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Vorwort
    von Joachim Körber

    Es gibt, was den Kulturgenuss angeht, bestimmte Schlüsselerlebnisse, nach denen man nicht mehr derselbe ist wie vorher. Umdenkungsprozesse, Veränderungen der eigenen Einstellung, wenn nicht gar der Persönlichkeit, lassen sich nicht selten an bestimmten Erfahrungen dingfest machen. Bei mir ist das jedenfalls so.
    Mitte der 1970er Jahre trug ich aus Überzeugung die Nonkonformistenuniform – Jeans und Parka, der natürlich nie zugeknöpft wurde, auch im tiefsten Winter nicht, selbst wenn man sich den Arsch abfror (Cool-Sein hat seinen Preis) – und hörte die Musik, die man eben hören musste, wenn man zu den Progressiven seiner Schulklasse gehören wollte (»Auch ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«, wie es Tocotronic Jahre, Jahrzehnte später so schön formulierten): Pink Floyd; Yes; Genesis; Jethro Tull; Emerson, Lake & Palmer. Bei den ganz Verwegenen (zu denen ich mich selbstredend auch zählte) kamen noch die Doors dazu. 1978 drangen dann die ersten, spärlichen Informationen über Punkrock nach Deutschland – oder, besser gesagt, zu mir. Musikzeitschriften wie Sounds, wo Säulenheilige (für mich) wie Dietrich Diederichsen oder Helmut Salzinger schrieben, die ja so recht hatten, warnten vor dieser garstigen neuen Musikrichtung und lehnten sie vehement ab (nicht alle, aber viele). Ich hatte die Schule hinter mir, aber immer noch Kontakt mit den alten Freunden, die vom Punk nichts wissen wollten und den Monster-Bands treu blieben. Doch dann begannen Umdenkungsprozesse, bei mir und auch in der Musikpresse.
    1978 schlich ich mich – mit einer Plastiktüte über dem Kopf, bzw. einem umgeklebten falschen Bart, damit mich niemand erkennen sollte, könnte ich jetzt des dramatischen Effekts willen sagen, obwohl es natürlich so nicht stimmt – in Stuttgart, wo ich zu der Zeit die Fachhochschule für Chemie besuchte, in einen Plattenladen und kaufte mir meine erste Punk-LP, die in Rezensionen denn doch verhalten gelobt worden war: das Debüt von Ultravox! (mit John Foxx, bevor Midge Ure die Band mit seiner grauenhaften Synthie-Mucke zugrunde gerichtet hat).
    Wer hätte sich träumen lassen, dass meine persönliche Straße nach Damaskus ausgerechnet im Schwabenland liegen würde? Nachdem ich die Platte angehört hatte, war die Welt buchstäblich nicht mehr dieselbe für mich. Ich konnte plötzlich die überproduzierte, glatte, wohlgefällige Musik der »Dinosaurier«, wie die Supergroups der 1970er Jahre von den Punks verächtlich genannt wurden, nicht mehr hören; dafür erschlossen sich mir, dank Ultravox!, völlig neue Klangwelten.
    Mein zweites musikalisches Erweckungserlebnis folgte dann wenig später in Erkrath. Ich hatte Werner Fuchs besucht (der mich endgültig auf unkonventionelle Musik angefixt hat), und der hatte mich, da wir uns völlig »verquatschten«, zur Übernachtung bei einem Freund einquartiert, und dieser wiederum legte morgens um sechs Uhr (ich werde das nie vergessen) Third Reich ’n Roll von den Residents auf – und da war es endgültig um mich geschehen. Musik wie diese hatte ich noch nie gehört, aber den Eindruck gewonnen, als hätte ich mein Leben lang danach gesucht und wäre endlich am Ziel angekommen, »zu Hause«. Später folgte dann, im selben Haus, beim selben Freund von Werner Fuchs, The Magic City von Sun Ra, eine Platte, die einem auch heute noch die Schädeldecke wegpustet. Ich darf mit Fug und Recht behaupten, dass diese Hörerlebnisse meinem Leben eine völlig neue Wendung gegeben haben.
    Ähnlich erging es mir mit der Literatur. Zur Science Fiction war ich, wie vermutlich so gut wie jeder in diesem unserem Land, über Perry Rhodan gekommen, doch bald beschlich mich (ähnlich wie bei der Musik) das Gefühl, dass das – und was ich sonst noch an SF verschlang – unmöglich »alles« sein konnte. Als ich beim Stöbern in der Karlsruher Bahnhofsbuchhandlung dann auf ein Exemplar der Science Fiction Times stieß (die damals, unter anderem, von Hans Joachim Alpers und Werner Fuchs gemacht wurde), stellte ich fest, dass es tatsächlich nicht »alles« war. Es wurde ein weiteres Erweckungserlebnis für mich. Hier setzten sich Leute literaturkritisch mit der Science Fiction auseinander und sprachen mir in vieler Hinsicht aus der Seele, politisch wie kulturell; sie zeigten die Schwächen des Genres auf und wiesen auf Alternativen hin. Und natürlich las ich sie alle, die Empfehlungen.
    Nach dem Dammbruch mit Third Reich ’n Roll und The Magic
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