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Leuchtfeuer Der Liebe

Leuchtfeuer Der Liebe

Titel: Leuchtfeuer Der Liebe
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Emerson und Thoreau. Als Jesse die Welt hinter sich gelassen hatte, hatte er seine Bücher als einzigen Besitz in die Einsamkeit mitgenommen. Er war ein unersättlicher Leser, floh beim Lesen in eine Scheinwelt. In den ersten Jahren nach der Tragödie hatte er sich an seine Bücher geklammert wie an einen Rettungsanker. Die geschwätzigen Stimmen der Romanfiguren hatten die Leere in seinem Kopf ausgefüllt und den Schrei des Grauens seiner Seele erstickt. Die Bücher hatten ihn davor bewahrt, wahnsinnig zu werden.
    Auf Regalbrettern in der Küche standen Krüge, Kannen und Töpfe der Größe nach geordnet wie Zinnsoldaten. Den großen Eisenherd putzte und schwärzte er seit vielen Jahren in regelmäßigen Abständen.
    Jahre, die er nicht zählen wollte.
    Die Ungeduld trieb ihn wieder auf die Veranda. Er riss heftig am Juteseil, was nicht nötig gewesen wäre, da Magnus' und Palinas gedämpfte Stimmen bereits durch den dichten Wald, der die
    Leuchtturmstation von Cape Disappointment umgab, zu hören waren. Der Waldboden war mit braunen Tannennadeln gepolstert und dämpfte ihre Schritte. Sie redeten lebhaft in ihrer isländischen Muttersprache wie gute Freunde, die sich nach langer Trennung wieder gefunden hatten.
    Jesse wunderte sich immer wieder über die harmonische Beziehung der Eheleute, die sich auch nach dreißig gemeinsam verbrachten Jahren noch so viel zu sagen hatten. Sie hatten einen beinahe erwachsenen, geistig leicht behinderten Sohn, Erik, den sie abgöttisch liebten. Stark wie ein junger Stier und einsilbig, machte auch Erik sich auf der Station nützlich.
    Die Jonssons tauchten an der Wegbiegung aus dem Wald auf. Die Morgensonne, die durch die Aste der hohen Kiefern und Fichten schien, ließ die Gesichter der beiden Alten aufleuchten, die lächelnd winkten, während sie ihre Schritte beschleunigten.
    Magnus Jonsson hatte den mächtigen Brustkasten und die breiten Schultern eines Fischers, der sein Leben damit verbracht hatte, Netze auszuwerfen und Winschen hochzukurbeln. Nach einem Unfall, bei dem er die linke Hand verlor, hatte er den Beruf aufgegeben. Die meisten Männer in seiner Situation hätten auch den Mut verloren und wären gestorben, Magnus aber hatte einen unbeugsamen Lebenswillen und war wieder genesen.
    Palina, obwohl kräftig gebaut, wirkte neben ihrem kraftstrotzenden Ehemann beinahe unscheinbar. Sie hatte helle Augen und große, vorstehende Zähne. Hinter ihren ruhigen Gesichtszügen verbarg sich offensichtlich ein scharfer Verstand und eine lebhafte Fantasie.
    „Guten Morgen, Jesse", grüßte sie mit einem leichten Singsang in der Stimme. „Sieh nur! Odin hat uns heute wieder einen prachtvollen Morgen beschert." Bei ihrer weit ausholenden Armbewegung über die sonnendurchflutete Lichtung und die idyllische Pferdeweide am Hang geriet ihr orangefarbener Schal ins Flattern.
    „Aegirs Atem hat die Wolken vertrieben und den Nebel aufgesaugt", fügte Magnus hinzu.
    Jesse nickte seinen Morgengruß. Er hatte sich an die ständigen Anspielungen der beiden auf Sagen und heidnische Gottheiten gewöhnt.
    „Das ist aber noch nicht alles, was der Morgen uns beschert hat", brummelte er, stieß die Tür auf und ließ die beiden eintreten. Dann ging er durch Wohnraum und Küche voraus in die hintere Kammer.
    Als die Jonssons die Frau im Bett entdeckten, blieben sie wie angewurzelt stehen und fassten sich an den Händen.
    „Hamingjan göoa", murmelte Magnus. „Was hat das zu bedeuten?"
    „Sie wurde an Land gespült." Jesse war verlegen, wie damals in seiner Kindheit, als er ein Geschenk bekommen hatte, das er nicht haben wollte. Was sagte man in einem solchen Fall?
    Danke.
    Aber er war nicht dankbar. Keineswegs.
    „Sie lebt noch", fügte er unbeholfen hinzu.
    Palina beugte sich bereits über die Frau wie eine Glucke über ihr Küken. Jesse trat näher. „Oder etwa nicht?"
    „Ja, ja. Sie lebt, aber sie ist halb erfroren, litla greyid, die Kleine. Mach Feuer im Herd, Magnus", befahl sie über die Schulter. „Aha, du hast ihr das nasse Zeug schon ausgezogen." In ihrer Stimme schwang keine Spur von Tadel. Sie wusste genau wie Jesse, wie man unterkühlte Schiffbrüchige wärmte.
    „Sie braucht schleunigst trockene Sachen." Palina nahm die
    Hand der Frau zwischen ihre beiden Hände und rieb sie sanft. „Was für ein gesegneter Tag. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass die Meeresgötter einem Mann ein solches Geschenk machen."
    Ein Geschenk ?
    Dummes Zeug. Aberglaube.
    Wo, zum Teufel, sollte er
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