Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories
Autoren: Richard Yates
Vom Netzwerk:
durchquerte den Pausenhof und ging zurück zum Durchgang, dessen Wand dort, wo er sie mit dem nassen Lappen abgewischt hatte, noch dunkle, kreis- förmige Flecken aufwies.
     Er suchte sich eine trockene Stelle, holte seine Kreide hervor und begann mit großer Sorgfalt einen Kopf im Profil zu malen; das Haar zeichnete er lang und voll, für das Gesicht ließ er sich Zeit, löschte hier und da mit feuchten Fingern und gestaltete alles wieder neu, bis es das schönste Gesicht war, das er jemals gezeichnet hatte; eine zierliche Nase, leicht geöffnete Lippen, ein Auge mit Wimpern, die so anmutig geschwungen waren wie die Flügel eines Vogels. Er legte eine Pause ein und bewun- derte sein Werk mit der feierlichen Miene eines Lieb- habers; dann zog er von den Lippen her einen Strich und formte ihn zu einer großen Sprechblase, in die er so zor- nig, daß ihm immer wieder die Kreide zwischen den Fin- gern zerbrach, alle Wörter schrieb, die er mittags an die Mauer gekritzelt hatte. Er wandte sich wieder dem Kopf zu, fügte ihm einen schlanken Hals an, leicht hängende Schultern und, mit kühnen Strichen, den Körper einer nackten Frau: große Brüste mit festen, kleinen Warzen, eine schmale Taille, einen Punkt als Bauchnabel, breite Hüften und Schenkel, die um ein Dreieck wütend hin- gekritzelter Schamhaare prangten. Zu guter Letzt schrieb er unter das Bild den Titel: »Miss Price«.
     Eine kurze Weile stand er tief durchatmend da und betrachtete sein Werk; dann ging er nach Hause.

Alles, alles Gute

    Niemand erwartete von Grace, daß sie am Freitag vor ihrer Hochzeit noch arbeitete. Nein, niemand hätte das zugelassen, ob sie wollte oder nicht.
     Ein Gardeniensträußchen – von Mr. Atwood, ihrem Chef – lag in einer Zellophanschachtel neben ihrer Schreib- maschine, und in dem beigefügten Umschlag steckte ein Geschenkgutschein von Bloomingdale über zehn Dollar. Mr. Atwood hatte sie, seit sie bei der Weihnachtsfeier der Firma mit ihm geknutscht hatte, besonders liebenswür- dig behandelt, und als sie nun hereinkam, um sich zu bedanken, saß er in tief gebückter Haltung da, hantierte klappernd an seinen Schreibtisch Schubladen und wich ihrem Blick errötend aus.
     »Aber nein, nicht der Rede wert, Grace«, sagte er. »Die Freude ist ganz meinerseits. Hier, brauchen Sie noch eine Nadel zum Anstecken?«
     »Ist schon eine dabei«, sagte sie und hielt das Sträuß- chen in die Höhe. »Sehen Sie? Eine hübsche, weiße Na- del.«
     Strahlend sah er zu, wie sie die Blumen am Revers ihres Kostüms befestigte. Dann räusperte er sich bedeutsam, zog die Schreibplatte aus seinem Tisch und machte sich bereit zum Morgendiktat. Doch am Ende waren es nur zwei kurze Briefe, und erst eine Stunde später, als sie ihn dabei ertappte, wie er einen Stapel Bänder im zentralen Schreibbüro abgab, wurde ihr klar, daß er ihr einen Ge- fallen getan hatte.
     »Das ist sehr lieb von Ihnen, Mr. Atwood«, sagte sie, »aber ich glaube wirklich, Sie sollten mich heute meine Arbeit machen lassen wie an jedem ande –«
     »Nicht doch, Grace«, sagte er. »Man heiratet nur einmal im Leben.«
     Auch die Mädchen waren in heller Aufregung, drängten sich kichernd um ihren Schreibtisch und wollten immer wieder das Foto von Ralph sehen (»Och, ist der süßl«); der Büroleiter sah sich das Treiben nervös an, wollte kein Spielverderber sein, wies aber nachdrücklich darauf hin, daß es trotz allem ein Arbeitstag sei.
     Zum Mittagessen hatte sich dann die übliche kleine Runde im Schrafft's versammelt – neun Frauen und Mäd- chen, die, beschwipst von den ungewohnten Cocktails, ihr Chicken à la King kalt werden ließen, während sie Grace mit alten Zeiten und guten Wünschen bombardier- ten. Es gab noch mehr Blumen und ein weiteres Ge- schenk – eine silberne Konfektschale, zu der jedes der Mädchen flüsternd etwas beigesteuert hatte.
     Grace sagte »Vielen Dank« und »Ich find' das ganz toll von euch« und »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, bis ihr schließlich von den vielen Worten der Kopf schwirrte, vom ewigen Lächeln die Mundwinkel weh taten und sie das Gefühl hatte, der Nachmittag würde niemals enden.
     Um vier Uhr rief Ralph an. »Wie geht's, Schatz?« fragte er überschwenglich, und ehe sie antworten konnte, sagte er: »Paß auf. Rate mal, was ich gekriegt hab'.«
     »Keine Ahnung. Ein Geschenk oder so? Was denn?« Sie versuchte begeistert zu klingen, aber es fiel ihr nicht leicht.
     »'ne Extrazulage. Fünfzig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher