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Die Tore zu Anubis Reich

Die Tore zu Anubis Reich

Titel: Die Tore zu Anubis Reich
Autoren: Tim Powers
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PROLOG
2. FEBRUAR 1802
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Vieles bleibt, wenn auch viel genommen ist; und sind wir auch nicht mehr von der Stärke, die einst Himmel und Erde bewegte, so sind wir doch, was wir sind...
    ALFRED, LORD TENNYSON

    Vom baumbestandenen Rücken des Hügels verfolgte ein sehr alter Mann mit einer Empfindung sehnsuchtsvollen Heimwehs, für das er jede Fähigkeit längst verloren geglaubt, wie die letzten Ausflügler ihre Körbe packten, die Pferde bestiegen und nach Süden davonritten; ihr Aufbruch war ein wenig hastig, denn die Strecke zurück nach London betrug gute sechs Meilen, und die Bäume entlang dem Fluß Brent, zwei Meilen westlich, hoben sich bereits wie Schattenrisse von der roten Sonne ab.
    Als sie fort waren, wandte sich der alte Mann, das langsame Sinken der Sonne zu betrachten. Das Boot von Millionen Jahren, dachte er; das Boot des sterbenden Sonnengottes Ra, das den Westhimmel hinab zum Quell des dunklen Flusses glitt, welcher von West nach Ost durch die Unterwelt strömt, durch die zwölf Stunden der Nacht, an deren östlichem Ende das Boot morgen wieder erscheinen wird, Fahrzeug einer wieder jugendlichen, neu entzündeten Sonne.
    Oder, dachte er bitter, durch eine kosmische Entfernung von uns getrennt, ein ungeheurer Ball von brennendem Gas, um den dieser kleine Planet wie ein Kügelchen aus Dung rollt, vorwärtsgetrieben von einem Mistkäfer. Du kannst es dir aussuchen, dachte er, als er sich anschickte, langsam den Hang hinabzusteigen... Aber sei bereit, für deine Wahl zu sterben.
    Er mußte sorgsam gehen, denn seine hohen japanischen Holzschuhe waren für den unebenen Boden und das büschelige Gras wenig geeignet.
    Bei den Zelten und Wagen brannten bereits Feuer, und die kühle Abendbrise trug ihm eine Mischung der verschiedensten Gerüche zu: einen scharfen, erdigen Geruch von den angepflockten Eseln, Holzrauch und den Duft am Spieß gebratener Igel, eines Gerichts, das sein Volk besonders schätzte. Dazwischen glaubte er einen schwachen Hauch von dem großen Korb wahrzunehmen, der am Nachmittag gebracht worden war - eine muffige Ausdünstung wie von perversen Gewürzen, die statt Appetit Widerwillen erzeugen sollten, erschreckend unpassend, wenn sie von den reinen Lüften, die über dem Heideland von Hampstead wehten, herbeigetragen wurde. Als er sich den Zelten näherte, wurde er von einigen der Hunde des Lagers begrüßt; wie immer wichen sie vor ihm zurück, sobald sie ihn erkannten, und einer machte kehrt und lief zielbewußt zum nächsten Zelt; der andere begleitete Amenophis Fikee mit offenkundigem Widerwillen ins Lager.
    Vom Hund aufmerksam gemacht, trat ein dunkler Mann in einer Cordjacke aus einem der Zelte und schritt über das Gras auf Fikee zu. Wie die Hunde, blieb er in einigem Abstand vom alten Mann stehen. »Guten Abend, Rya«, sagte er. »Möchtet Ihr etwas essen? Sie haben ein Hotschewitschi über dem Feuer, riecht sehr kuschte.«
    »So kuschte, wie Hotschewitschi eben riecht, nehme ich an«, murmelte Fikee. »Aber nein, danke. Eßt nur selbst davon.«
    »Ich nicht, Rya - meine Bessie mochte Hotschewitschi immer gern; deshalb esse ich es nicht mehr, seit sie tot ist.«
    Fikee nickte, obwohl er offensichtlich nicht zugehört hatte. »Sehr gut, Richard.« Er hielt inne, als hoffte er auf eine Unterbrechung, die jedoch ausblieb. »Wenn die Sonne untergegangen ist, sagst du ein paar von den Chals, daß sie den Korb unten am Ufer zu Dr. Romanys Zelt tragen sollen.«
    Der Zigeuner strich sich den geölten Schnurrbart und trat zweifelnd von einem Fuß auf den anderen. »Den Korb, den dieser Seemann heute brachte?«
    »Selbstverständlich. Welchen sonst, Richard?«
    »Die Chals mögen es nicht, Rya. Sie sagen, etwas darin sei mullo dusta besches, viele Jahre tot.«
    Amenophis Fikee runzelte die Stirn und zog den Umhang enger um die Schultern. Er hatte die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf dem Hügel hinter sich gelassen, und im Licht der anbrechenden Dämmerung schien sein zerklüftetes Gesicht nicht mehr Leben zu besitzen als ein Stein oder Baumstamm. Endlich sagte er: »Nun, was darin ist, hat sicherlich dusta besches gesehen - viele, viele Jahre.« Er warf dem besorgten Zigeuner ein Lächeln zu, das an einen Erdrutsch gemahnte, welcher altes weißes Gestein freilegt. »Aber es ist nicht mullo, hoffe ich. Nicht ganz mullo.«
    Dies trug kaum zur Beruhigung des Zigeuners bei, der den Mund zu einem weiteren respektvollen Einwand auftat; aber Fikee hatte sich abgewandt und
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