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Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Mein Leben mit Wagner (German Edition)

Titel: Mein Leben mit Wagner (German Edition)
Autoren: Christian Thielemann
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    Bis ich 15 oder 16 war, habe ich neben der Musik Richard Wagners auch viel Gustav Mahler gehört. Pubertierenden fällt seine Musik ja buchstäblich in den Schoß. Irgendwann aber kam mir Anton Bruckner in die Quere, der Mahler-Antipode, der so viel mit Wagner zu tun hat, und ich spürte, dass sich diese beiden Herzen in meiner Brust auf Dauer nicht vertragen würden. Ich musste mich entscheiden: zwischen dem eher Lebensbejahenden und dem mehr Lebensverneinenden, zwischen der Utopie und den Verlockungen des Abgrunds, zwischen Wagner und Mahler. Ich habe mich für Wagner entschieden (und für Bruckner). Und ich würde es immer wieder tun, wenngleich sich auch die Mahler-Lust inzwischen wieder leise in mir regt.
    Die Konsequenzen dieser Entscheidung haben mein künstlerisches Leben geprägt, und davon möchte ich in diesem Buch erzählen. Warum lohnt sich ein Leben mit Wagner? Und was kann einen an diesem Komponisten ärgern? Was heißt es, Wagner zu dirigieren, im Bayreuther Festspielhaus und anderswo? Was muss für eine gelungene Aufführung alles zusammenkommen? Was macht das Besondere der einzelnen Opern aus, wo stehen sie jeweils im Wagner-Kosmos? Solche Fragen und andere mehr habe ich mir gestellt. Ich möchte sie möglichst von der Praxis her beantworten, aus meinem Leben und aus meiner beruflichen und persönlichen Erfahrung.
    Dirigenten äußern sich gemeinhin nicht schriftlich. Wagner selbst hat geschrieben, in leidenschaftlicher, ausufernder Weise, hat sich so gesucht und gefunden. Wilhelm Furtwängler hat geschrieben, sehr klug, von Sergiu Celibidache ist gar eine «musikalische Phänomenologie» überliefert, auch von Michael Gielen, Pierre Boulez, Daniel Barenboim und Ingo Metzmacher existieren Bücher zur Musik. Dass ein Dirigent sich einem einzigen Komponisten verschreibt (im wahrsten Wortsinn), dürfte eher selten sein. Ich will das hier aus zwei Gründen tun. Den ersten habe ich schon genannt: Durch Wagner ist mein musikalisches Denken und Empfinden geworden, was es heute ist. Wagner hat mich mit mir selbst konfrontiert. Das war als Erfahrung nicht immer nur nett, schweißt emotional aber ungeheuer zusammen. Dieser Prozess unterscheidet ihn von vielen anderen, die mir ebenfalls sehr nahe stehen: Bach natürlich, Beethoven, Bruckner, Richard Strauss.
    Der zweite Grund betrifft die Hörer. Ich denke, alle Wagner-Hörer (und alle, die es werden wollen) haben ein berechtigtes, ja notwendiges Interesse daran zu erfahren, wie es in der Wagner-Werkstatt zugeht: in der Werkstatt des Komponisten und in der Werkstatt des Interpreten. Es ist dort nicht alles nur Mirakel oder Event, es gibt auch viele Dinge, die man wissen, beherrschen und erklären kann. Und die möchte ich erklären, aus meiner Sicht. Um neuen, falschen Mythen entgegenzuwirken. Und damit die Inhalte nicht noch mehr mit ihren Oberflächen verwechselt werden. Zu Wagners 200. Geburtstag am 22. Mai 2013 wird eine Welle an Veröffentlichungen auf uns zurollen (wobei die Wagner-Literatur jetzt schon Bibliotheken füllt). Ich bin weder Musikwissenschaftler noch Soziologe oder Historiker, ich bin Musiker. Doch manchmal habe ich das Gefühl, den Schlüssel zu Wagner gefunden zu haben. Und das Schönste wäre, wenn im Lauf der Lektüre dieses Buches sich auch für andere die Tür zu Wagner etwas weiter öffnete.

I

«Du spielst doch nicht etwa Orgel?»
Mein Weg zu Wagner

 
    Richard Wagner wurde mir in die Wiege gelegt. Ich bin in einem bürgerlichen Elternhaus groß geworden, damals sagte man auch «gutbürgerlich», und das meinte nicht nur den Majoran zur Weihnachtsgans, sondern etwas Verlässliches, Grundsolides, auf das man im Leben bauen konnte, etwas Behütetes und Bewahrendes. Ich habe das genossen und sicher sehr gebraucht. Für die Erziehung in den frühen Sechzigerjahren bedeutete der «gutbürgerliche» Hintergrund: Das Kind wuchs mit Musik auf, mit Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner. Und, in meinem Fall, mit Richard Wagner. Die Musik war einfach da, von Anfang an, wie das Essen auf dem Tisch, wie der Schlachtensee im Sommer zum Schwimmen. Bachs Oratorien, Bruckners Symphonien, Sonaten von Mozart und Schubert, Lieder, Kammermusik, Opernarien, all das erreichte vom ersten Tag an mein Ohr, über die gut bestückte Plattensammlung zuhause, über Konzertübertragungen im Radio und vor allem über das Klavier: Meine Eltern spielten beide sehr gut. Und ich dankte es ihnen, indem ich früher singen konnte als sprechen. Meine Mutter notiert
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